Der 7. Oktober und seine Folgen: Ein Jahr der Radikalisierung

Autor:innen: Nicholas Potter

Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober gehen Menschen weltweit auf die Straße gegen Israel. Ein Jahr später ist die Bilanz alarmierend: Die Proteste haben sich immer weiter radikalisiert, auch in Deutschland. Inzwischen gehören für viele Demonstrant:innen Terrorverherrlichung und Pressefeindlichkeit zum politischen Konsens. Ein Gastbeitrag.

Es ist der 15. Oktober 2023, das Massaker der Hamas ist gerade eine Woche her, als sich mehr als tausend antiisraelische Demonstrierende auf dem Berliner Potsdamer Platz versammeln. Es ist nicht die erste solche Demonstration in der Hauptstadt seit dem 7. Oktober, dem Tag, an dem schwerbewaffnete Kommandos mehrerer palästinensischen Terrororganisationen in zahlreichen Kibbuzim und auf einem Musikfestival im Süden Israels fast 1.200 Menschen ermordeten. Aber sie liefert den Auftakt für eine Welle antisemitischer Proteste, die sich in den vergangenen zwölf Monaten immer weiter radikalisieren und bis heute andauern. Und sie produziert Bilder, die zwar unter manchen für Entsetzen sorgen, aber inzwischen zum Alltag gehören.

„Hamas Ya Shabiya!“, brüllt ein Mann mit Kufiya auf dem Potsdamer Platz. Zu Deutsch: „Hamas, du Bewegung des Volkes!“. „Lasst die Waffen nicht los“, skandiert er weiter auf Arabisch. Und: „Lasst die Zionisten nicht laufen.“ Die aufgeheizte Menge, die er damit adressiert, antwortet unisono. Die Polizei sieht die Demonstration als Ersatz für eine zuvor verbotene und löst sie deshalb auf. Die Beamten kassieren dafür Tritte, Schläge und Bollerexplosionen und setzen Pfefferspray ein. Die Bilanz: 153 Festnahmen, 80 Strafanzeigen, 68 Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten und 24 verletzte Einsatzkräfte.

Die Szenen vom Potsdamer Platz sind nur ein Beispiel von vielen. RIAS, eine zivilgesellschaftliche Recherche- und Informationsstelle für Antisemitismus, dokumentierte bundesweit 415 antisemitische Versammlungen zwischen dem 7. Oktober und dem Ende 2023. Auf Anfrage teilte die Berliner Polizei mit, dass zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 23. September 2024 in der Hauptstadt 339 Demos „pro Palästina“ stattgefunden haben. Hinzu kommen 93 angemeldete Demos, die im Vorfeld verboten wurden. Die Behörde zählt in ihrer sogenannten internen Eingangsstatistik mindestens 365 Gewaltdelikte sowie 77 Propagandadelikte auf diesen Versammlungen.

Eine findet drei Wochen später, am 4. November, am Berliner Alexanderplatz statt – mit 9.000 Teilnehmern laut der Berliner Polizei. Das Narrative eines „Genozids“ ist schon hier omnipräsent – nur eine Woche nach dem Beginn der israelischen Bodenoffensive. Plakate mit antisemitischen Andeutungen sind vielfach zu sehen: „Germans are bootlickers of the Zionists“, zum Beispiel – die Deutschen seien die Speichellecker der Zionisten, die als übermächtig imaginiert werden und die deutsche Politik steuern würden. „Boycott Israhell“ stand auf einem weiteren Plakat – mit einem durchgestrichenen „Auge der Vorsehung“, einem Symbol, das von Verschwörungsgläubigen oft in Verbindung mit vermeintlichen Geheimgesellschaften wie den Illuminaten verwendet wird.

Organisiert wird die Demo von Gruppen wie „Palästina Spricht“, die den Angriff der Hamas als „revolutionären Tag“ feierte und der antizionistischen BDS-Gruppe „Jüdische Stimme“. Auch Anhänger des Netzwerkes Samidoun sind anwesend, einer Vorfeldorganisation der palästinensischen Terrororganisation PFLP, die nur Tage zuvor vom Bundesinnenministerium verboten wurde. Es ist eine Querfront gegen Israel: queere Aktivist*innen, antiimperialistische Linken und fundamentale Islamisten laufen Schulter an Schulter.

Die Demos am Potsdamerplatz und Alexanderplatz zeigen: Der 7. Oktober hat einen antisemitischen Radikalisierungsprozess beschleunigt, der bereits seit Jahren im Gang ist. Und er brachte Schwung in die internationale BDS-Bewegung, eine Boykottkampagne, die seit 2005 Israel wirtschaftlich, wissenschaftlich und kulturell isolieren will und die darauf abzielt, Israel als jüdischen Staat abzuschaffen. Doch den Protesten geht es längst nicht mehr nur um Boykott. Und das zeigen die gängigen Parolen wie „Yallah Intifada“ oder „From the river to the sea“ – Slogans, die zur Gewalt aufrufen oder die Existenz Israels als jüdischen Staat negieren.

International wird Terror gegen Israel immer salonfähiger. Auf einer Demo im Oktober in London, auf der zwei Teilnehmerinnen Paraglider-Bilder auf ihren Jacken trugen, wurde ein Gegendemonstrant aus Iran mit einer Israelflagge durch die Straßen gejagt und mit Enthauptung gedroht. Im Rahmen der Proteste rund um die Besetzung der New Yorker Columbia University im April skandierten Demonstrierende: „Burn Tel Aviv to the ground“ und „Ya Hamas, we love you, we support your rockets too“. Und im August in Toronto blockierten Aktivisten eine Straße mit Botschaften wie „Long live legal armed resistance“ und „Palestine resists“ – samt roten Dreiecken, dem Kriegssymbol der Hamas.

Auch in Deutschland wird Terrorverherrlichung zunehmend normalisiert. Während der antiisraelischen Besetzung der Berliner Humboldt-Universität im Mai sprühten Aktivist:innen Parolen wie „Intifada“, „Resistance is justified“ oder „You are gonna lose to the resistance“ an den Wänden eines Instituts, ebenfalls mit roten Dreiecken.

Der Trend ist alarmierend: Antisemitischer Terror wird in Teilen der Linken als legitimer Widerstand verharmlost – und als antikolonialer Akt gefeiert. Hinzu kommen Shoahrelativierungen: Die israelischen Luftschläge in Gaza seien etwa wie die Duschen von Auschwitz, hieß es auf einer Demonstration in Düsseldorf im November.

Es bleibt nicht nur bei Worten, sondern endet oft in Drohungen, Anfeindungen und Gewalt gegen Jüdinnen und Juden. Zwischen dem 7. Oktober und dem Ende 2023 verzeichnete RIAS 32 antisemitische Vorfälle pro Tag – einen Höchststand. Im Februar wurde ein jüdischer Student in Berlin krankenhausreif zusammengeschlagen. Im Mai plante ein 18-Jähriger einen Messeranschlag auf die Synagoge in Heidelberg. Anfang September schoss ein ebenfalls 18-Jähriger auf das israelische Konsulat in München – am Jahrestag des tödlichen Olympia-Attentats gegen elf israelische Sportler.

Der Höhepunkt der antiisraelischen Proteste in Deutschland scheint inzwischen vorbei zu sein, zumindest zahlenmäßig. Was bleibt, ist ein radikalisierter Kern, der sich wöchentlich auf kleinen Versammlungen trifft. Sie werden begleitet von szenenahen Medienaktivist:innen, die die Demos begleiten aber auch mitgestalten – im Livestream für die sozialen Medien. Einige haben inzwischen Zehntausende Follower. Ein Trend, der an die „Influencer“ der Querdenken-Szene während der Covid-Pandemie erinnert. Antisemitische Hamas-Propaganda wird dabei unwidersprochen bis zustimmend geteilt. Vor allem Instagram wird zunehmend zu einem wichtigen Mobilisierungskanal der Szene und verbindet sich als progressiv verstehende akademische und aktivistische Milieus.

Ähnlich wie bei verschwörungsideologischen Demos wird auch auf solchen Versammlungen die „Mainstream“-Presse dafür umso mehr verachtet: Sie wird etwa als „Zionistenpresse“ beschimpft und körperlich attackiert. Die Deutsche Journalistenunion beim Gewerkschaft Verdi hat seit dem 7. Oktober 36 körperliche Angriffe auf Journalisten erfasst – alleine in Berlin. In Leipzig wurde ein Videojournalist von einem mutmaßlichen Demoordner verprügelt. In Berlin wurde ein Reporter von einer Demo nach Hause verfolgt und mit einem Messer bedroht. Die Redaktion des Tagesspiegel wurde bereits zweimal mit roten Dreiecken gesprüht und einer ihrer Reporter erhielt Morddrohungen.

Dabei sind es Journalist:innen, die die Radikalisierung der Szene seit dem 7. Oktober dokumentieren. Die Szenen auf dem Potsdamer Platz Mitte Oktober wurden vom Verein democ festgehalten, der zu demokratiegefährdenden Bewegungen recherchiert. Doch immer weniger Journalist:innen berichten über antiisraelische Versammlungen. Grischa Stanjek, Mitgründer von democ, sagte im August der taz, er besuche heute solche Demos seltener: „Es wurde zu gefährlich. Und das ist beunruhigend.“

Ein Jahr nach dem 7. Oktober sind die Folgen des Gaza-Kriegs auch in Deutschland immer noch zu spüren. Am Vortag ist eine Demo in Berlin-Kreuzberg unter dem Motto „Palestine Resists“ angemeldet, zu der Gruppierungen wie Palästina Spricht und Migrantifa Berlin mobilisieren. Im Aufruf betonen sie „die Legitimität des palästinensischen Widerstands bis zum Ende der israelischen Besatzung und Aggression! Bis zur Befreiung und bis zur Rückkehr!“. Sie wollen „die Straßen Berlins fluten“ – offenbar eine Anspielung auf die „Al-Aqsa Flut“, so nannte die Hamas den Angriff. Startpunkt der Demo ist um die Ecke von einer Synagoge.

Nur Tage zuvor wurde in der Nacht ein Brandanschlag auf die Neuköllner Bar Bajszel verübt, in der regelmäßig Veranstaltungen zum Thema Antisemitismus oder Nahostkonflikt stattfinden. Aus der antisemitischen Radikalisierung, die auf der Straße und in den sozialen Medien stattgefunden hat, folgen zunehmend auch Taten.

Über den Gastautor: Nicholas Potter ist Journalist bei der taz und Mitherausgeber des Buches „Judenhass Underground: Antisemitismus in emanzipatorischen Subkulturen und Bewegungen“. Seine Schwerpunkte sind Extremismus, Medien und soziale Bewegungen.

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