Das Comeback von Xavier Naidoo: Ohne ernsthafte Distanzierung vom Antisemitismus
Am 16. Dezember 2025 betrat der Musiker Xavier Naidoo wieder eine Bühne in Deutschland. Dieser Auftritt in Köln war mehr als nur das erste Konzert nach sechs Jahren Funkstille eines zuvor erfolgreichen Sängers.
Es war ein Ereignis, das an der Schnittstelle zwischen Musik, Geschichte und gesellschaftlicher Debatte stattfand. Einer der erfolgreichsten deutschen Soul-Künstler meldete sich so zurück - nach einer eher unfreiwilligen Pause. Der einst nahezu omnipräsente Sänger war in den letzten Jahren weniger wegen seines musikalischen und mehr wegen seines politischen Wirkens im Gespräch. In der Vergangenheit trat er mit sogenannten “Reichsbürgern” auf, hing der QAnon-Ideologie an und schrieb antisemitische Nachrichten in seinem Telegram-Channel. Er hatte eine Radikalisierung durchlaufen, die nicht erst mit der Corona-Pandemie begonnen hatte, dort aber ihren vorläufigen Höhepunkt fand.
16.000 Fans hatten sich zu Naidoos Comeback in der Kölner Lanxess-Arena eingefunden, darunter auch Oliver Pocher. Im Anschluss schrieb der Comedian in den sozialen Medien: „Sie haben versucht zu canceln, aber Talent und Können setzt sich immer durch!“ Ein Satz, der viral ging und Naidoo als Künstler in Schutz nehmen sollte – und der gleichzeitig die anhaltende Aktualität von Debatten rund um die Frage einer Trennung von Kunst und Künstler*innen auf den Punkt bringt. Pocher steht offen zu seiner Freundschaft mit Naidoo und formulierte, was viele Naidoo-Fans denken: Die Kritik an ihrem Idol lässt sie kalt – auch wenn dieses sich offen zum Antisemitismus bekannt hat.
Verjährt Antisemitismus?
Dabei wird Pocher selbst zum personalisierten Widerspruch: Heute applaudiert er einer Person, die man laut einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von Dezember 2021 als “Antisemiten” bezeichnen darf. Vor knappt zwei Monaten nahm er dagegen seine Follower nach Israel mit und zeigte sich durchaus berührt von den überfallenen Ortschaften des Terrorangriffs und der systematisch verübten sexuellen Gewalt der palästinensisch-islamistischen Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023. Er berichtete Geschichten von den Ermordeten und nach Gaza verschleppten Geiseln. Ebenso drückte er sein Mitgefühl und Solidarität mit dem überfallenen jüdischen Staat aus. Es war nicht Pochers erster Besuch: 2019 besuchte er die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem und schrieb dann: “Der Holocaust ist eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren Geschichte und darf niemals vergessen werden!” Das alles steht ganz offensichtlich im Widerspruch zur Parteinahme für einen Musiker, der am 22. Februar 2021 über seinen Telegram-Kanal unter anderem das antisemitische Pamphlet “Die Protokolle der Weisen von Zion” verbreitete.
Im Jahr 2022 entschuldigte sich Naidoo in einem dreiminütigen Video und sprach von “Irrwegen” in den Pandemie-Jahren. Doch das wenig konkret formulierte Video konnte nie Zweifel zerstreuen, ob er sich mit seinen Aktivitäten während der Pandemie kritisch auseinandergesetzt hat und ob er sich inzwischen vom Teilen rechtsextremer und antisemitische Ansichten distanziert. Denn in der Pandemie wollte Naidoo unter anderem diverse jüdische Organisationen sowie Nachfahren von Shoa-Überlebenden „canceln“. Der Soulmusiker schuf mit seiner Gruppe, die zur Hoch-Zeit über 100.000 Mitglieder hatte, einen Resonanzraum für Antisemitismus und rechtsextreme Ideologie. So trug er zu deren gesellschaftlicher Normalisierung bei.
Es geht nicht darum, ob Naidoo ein guter Musiker ist, sondern um die Frage, welche Verantwortung öffentliche Personen für ihr Wirken tragen. Und bei Naidoo handelte es sich nicht um harmlose Fehltritte, sondern um die bewusste Verbreitung historisch belasteter und antisemitischer Inhalte. Auch kein Fehltritt, sondern eine bewusste Aussage: 2021 veröffentlichte Naidoo gemeinsam mit dem ehemaligen Sänger der rechtsextremen Hooliganband “Kategorie C”, Hannes Ostendorf, die Lieder “Heimat” und “Deutschland krempelt die Ärmel hoch”.
Der Widerspruch zwischen Freundschaft und politischer Überzeugung
Oliver Pocher ist nur das jüngste Beispiel für Doppelstandards in der Beurteilung von Antisemitismus unter Freunden. Als Richard David Precht 2023 eine inhaltlich falsche Behauptung über das orthodoxe Judentum in seinem Podcast “Lanz & Precht” äußerte, sorgte das für bundesweite Diskussionen. Precht hatte behauptet, dass orthodoxe Juden aus religiösen Gründen nicht arbeiten dürften, “ein paar Sachen wie Diamanthandel und ein paar Finanzgeschäfte ausgenommen“. Co-Podcaster und ZDF-Moderator Markus Lanz stimmte hörbar zu. Später sagte Lanz, er habe es nicht richtig verstanden. Diese Aussage reproduziert jahrhundertealte antisemitische Stereotype und stieß auf breite Kritik u.a. von der Orthodoxen Rabbinerkonferenz.
Markus Lanz sprang nur kurz darauf in seiner Talkshow für seinen Buddy Precht in die Bresche und verteidigte ihn öffentlich: “Die Verkürzung hin zum Antisemitismus finde ich an dem Punkt wirklich schwierig.” Und weiter: “Richard David Precht ist jemand, den ich persönlich sehr gut kenne. Nichts ist dem weiter entfernt als Antisemitismus“. Dabei ging es nicht darum, ob Precht “Antisemit” sei, sondern lediglich wurde seine Aussage als antisemitisch bewertet. In seiner späteren Non-Apologie wollte Precht sich dann bei “allen entschuldigen, die darin etwas Antisemitisches gesehen haben”.
Die Fälle Oliver Pocher und Xavier Naidoo sowie Markus Lanz und Richard David Precht machen zwei Punkte über Freundschaftsdienste in öffentlichen Debatten deutlich: Erstens, dass eine kritische Distanz bei problematischem Verhalten oftmals aus falscher Loyalität ausbleibt. Loyalität wird also höher bewertet als etwa die Auseinandersetzung mit den Wirkungsmechanismen des Antisemitismus. Wie der Fall um den ehemaligen Fußballprofi Jérôme Boateng zeigt, ist das kein spezifisches Phänomen des Antisemitismus. Zweitens zeigt es, dass Israelsolidarität oder Trauer um die mehr als 1.200 Opfer des Hamas-Terrors am 7. Oktober nicht zwangsläufig mit einer antisemitismuskritischen Grundhaltung einhergehen muss. Der “Trugbild-Zionismus”, ein Begriff den der Politikwissenschaftler Monty Ott und ich geprägt haben, war über Jahre hinweg Teil der Politik der AfD. Inzwischen tendiert die AfD in Teilen zu einer “Germany First”-Politik, die das Thema Israel links liegen lässt oder dem jüdischen Staat negativ gegenüber steht. Nichtsdestotrotz zeigen gerade vermeintliche Solidaritätsbekundungen aus dem rechtsextremen Spektrum, dass es sehr diverse, instrumentelle Hintergründe dafür gibt und diese keineswegs immer eine kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus bedeuten.
Die Debatte über Kunstfreiheit und Verantwortung führen, statt zu ignorieren
Die Rückkehr von Xavier Naidoo auf die große Bühne kann nicht als isoliertes Ereignis betrachtet werden, sondern steht sinnbildlich für einen Brennpunkt unserer Zeit: Sie zeigt, wie Gesellschaften mit Persönlichkeiten umgehen, deren Wirken und Beitrag ihnen einerseits Bekanntheit und Beliebtheit einbrachte, die aber auch offen antisemitische Positionen vertreten. Die Frage, ob und wie man mit solchen Künstler:innen umgeht, berührt Grundfragen über Kunstfreiheit, Verantwortung, historische Sensibilität und die Grenzen dessen, was gesellschaftlich noch akzeptiert werden kann.
In Naidoos Fall hat sich die Gesellschaft dazu entschlossen, den Künstler trotz fehlender ernsthafter Distanzierung von antisemitischen Aussagen wieder auf der Bühne zu bejubeln. Aber ist das eine Trennung von Kunst und Künstler in einer Gesellschaft, in der konstant rund ein Viertel der Bevölkerung latenten oder manifesten antisemitischen Aussagen zustimmt, wie die sozialwissenschaftlichen Befragungen der letzten Jahre zeigen?