Koordi­nierter Vertrauens­verlust

Wenn die Gefahren von Desinformation thematisiert werden, geht es oftmals nur in einer kurzfristigen Betrachtung darum, dass Menschen falsche Behauptungen für wahr erachten und dass hieraus unmittelbare Probleme entstehen. Zur umfassenden Betrachtung von Desinformation gehört jedoch auch der Blick auf ihre langfristigen Auswirkungen auf die Demokratie. Denn Desinformation ist ein konstanter Stressfaktor für demokratische Gesellschaften.

Die Gefahr, die von Desinformation ausgeht, ist vielschichtiger, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn neben der konkreten falschen Behauptung, die in einer Meldung verbreitet wird, verfolgen Desinformationen oftmals weitere latente Verunsicherungsziele und vermitteln implizite Botschaften auf weiteren Ebenen als der Sachebene, wie das folgende Beispiel verdeutlicht: Im Beitrag wird wahrheitswidrig behauptet, ukrainische Geflüchtete hätten in Deutschland einen russisch-sprachigen Jugendlichen getötet. Der Fall war erfunden, wie der Correctiv Faktencheck recherchiert hat.1

Dieser erfundene Beitrag vermittelt nun Impulse auf mehreren Ebenen:

Beispiel zu Wirkungsebenen von Desinformation

Im kurzfristigen Zeitrahmen können solche Beiträge dazu führen, dass falsche Behauptungen geglaubt werden. Das kann beispielsweise bedeuten, dass wichtige Handlungen ausgelassen oder die falschen Handlungsbeschlüsse erfolgen. Das oben genannte Beispiel ist etwa dazu geeignet, Ressentiments gegen ukrainische und andere Geflüchtete zu schüren und kann so langfristig zu einer Entsolidarisierung oder auch zu Übergriffen beitragen.2 Desinformation wirkt jedoch nicht nur in Form eines einzelnen, irreführenden Beitrags, sondern entfaltet ihre Wirkung in der Kombination aus vielen verschiedenen Beiträgen, die über längere Zeit im Umlauf sind und sich in ihrer Gesamtheit zu zentralen Narrativen verdichten.3 Langfristig ist also mit weiteren, tiefergreifenden Folgen zu rechnen.

Wirkungsebenen von Desinformation

Desinformation schädigt Vertrauen in Medien und Wissenschaft

Sensationsheischende Beiträge über vermeintliche Ereignisse werden regelmäßig implizit oder explizit mit der Aussage verbunden, diese Information würde von nach journalistischen Standards arbeitenden Medien oder der Wissenschaft absichtlich zurückgehalten. Man unterstellt eine bewusste Vertuschung besorgniserregender Ereignisse oder Zusammenhänge und vermittelt, Medien und Wissenschaft seien nicht vertrauenswürdig, sondern handelten fahrlässig bis bösartig gegenüber der Bevölkerung:

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So beschreiben auch die Reporter ohne Grenzen im World Press Freedom 2023-Index die “Fake Content“-Industrie als Gefahr für den Qualitätsjournalismus, die die Grenzen zwischen Fakten und Erfundenem verwische: „In 118 Ländern der 180 vom Index bewerteten Länder berichteten die meisten Befragten des Index-Fragebogens, dass politische Akteure in ihren Ländern häufig oder systematisch an massiven Desinformations- oder Propagandakampagnen beteiligt waren.“4 Wer den fehlleitenden Narrativen zur vermeintlich nicht vertrauenswürdigen Presse glaubt, verliert ein wichtiges Instrument zum eigenen Kenntnis- und Wissensaufbau. Ähnliches gilt für die gesellschaftliche Haltung zur Wissenschaft.5, 6

Entfallen bestimmte Medien und wissenschaftliche Arbeiten aufgrund einer Vertrauenserosion, wird Ersatz benötigt. Naheliegend ist da die Gefahr, die entstandene Lücke mit Quellen zu füllen, die sich nicht an journalistische oder wissenschaftliche Standards halten. Beispielhaft sind hier die selbsternannten „Alternativmedien“ zu nennen, die regelmäßig mit Falschbehauptungen, irreführenden und ideologischen Beiträgen, Verschwörungsideologie oder dem Verkauf von Scheinlösungen auffallen.7 Auch ist der Rückzug in die Subjektivität denkbar, die sich eher an der persönlichen Meinung als an seriös überprüften Fakten orientiert. Diese These wird durch Befragungsergebnisse der Mitte-Studie 2020/21 der Friedrich-Ebert-Stiftung gestützt, in der knapp ein Drittel der Befragten angab, den eigenen Gefühlen mehr zu vertrauen als Expert:innen – eine wissenschaftsfeindliche Haltung.8

Desinformation zielt darauf, Vertrauen in demokratische Institutionen zu untergraben

Auch Politiker:innen werden im Rahmen von Desinformation häufig angegriffen, wobei der Übergang von diskreditierender Desinformation zur Verschwörungserzählung fließend ist. Schnell ist von einer Diktatur die Rede:

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Solche Erzählungen sind schädlich für das Vertrauen in die Demokratie. So stellte die Friedrich-Ebert-Stiftung in ihrer Studie „Demokratievertrauen in Krisenzeiten“ 2023 fest, dass 2/3 der Befragten, die mindestens einer Verschwörungserzählung eher zustimmten, eine signifikant höhere Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie angaben, als jene, die keiner Verschwörungserzählung zustimmten (26% Unzufriedenheit).9 Betrachtet man irreführende Behauptungen und Verschwörungserzählungen zu demokratischen Institutionen neben ebenfalls regelmäßig vorkommenden Inhalten zu angeblich manipulierten oder gefälschten Wahlen,10 können Bilder mit gefährlichen Handlungsaufforderungen entstehen:

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Es wird vermittelt, die Regierung sei unfähig, boshaft und gefährlich und sollte abgesetzt werden. Da Wahlen ohnehin manipuliert seien, würde der demokratische Ausdruck des Wähler:innenwillens nicht zum Ziel führen. An diesem Punkt können Aufrufe zum Handeln zur Legitimation von Gewalt werden.

Desinformation weicht das Konzept feststellbarer Fakten auf

Ebenso besorgniserregend sind Muster im Desinformationsgeschehen, die Medienrezipient:innen in ihrem Versuch, eine Situation zu beurteilen nicht nur fehlleiten, sondern ratlos zurücklassen. Die Strategie des „Schlammaufwirbelns“ („Muddying the waters“11; alternativ: „flooding the zone with shit“12), die beispielsweise Russland als Reaktion auf den Abschuss eines Passagierflugzeugs über der Ukraine in 2014 zeigte, setzt dabei auf die Verbreitung gleich mehrerer widersprüchlicher und falscher Erklärungen für ein Ereignis.13 Dies kann dazu führen, dass Menschen Schwierigkeiten haben festzustellen, was tatsächlich passiert ist – nämlich dass Russland für den Angriff verantwortlich war.14 Eine solche Nachrichtenlage kann Medienkonsument:innen überfordern. Es besteht die Gefahr des Eindrucks, der Wahrheitsgrad einer Aussage sei grundsätzlich nicht feststellbar. Hier droht ein Rückzug vom Versuch, sich anhand gesicherter Fakten ein Bild zu machen. Alternativ wird die Beurteilung eines Sachverhalts beliebig: Jede:r kommt zu einem anderen Schluss, tatsächlich faktenbasierte Argumente erscheinen als bloße Meinungen. Für die demokratische Debatte ist die geteilte Akzeptanz von Fakten jedoch grundlegend notwendig.15 Bleibt die Verhandlung bereits in der Uneinigkeit dazu stecken, worüber eigentlich gesprochen wird, kann die Ableitung von notwendigen Maßnahmen verzögert oder ganz verhindert werden.

Auswirkungen von Desinformation auf die demokratische Gesellschaft

Nach journalistischen Standards arbeitende Medien und evidenzbasierte Wissenschaft sind wichtige Grundsteine demokratischer Gesellschaften. Sie sind Instrumente zum Erkenntnisgewinn, wobei sie aufgrund ihrer Standards den Anspruch haben, den tatsächlichen Fakten so nah wie möglich zu kommen. Das macht sie einzelnen und unsystematischen Beobachtungen gegenüber überlegen.16, 17 Die von ihnen generierten Erkenntnisse ermöglichen es der Bevölkerung, sich eine faktenbasierte Meinung zu bilden und einen demokratischen Willen zu entwickeln.18, 19 Der Ausdruck dieses Willens findet in Form von Wahlen statt, bei denen Wahlberechtigte repräsentativen Vertreter:innen ihre Stimme anvertrauen.20 Diese sollen den Willen der Wähler:innen umsetzen.21 Die Grundlage all dieser Bausteine ist Vertrauen: Die Bevölkerung vertraut grundsätzlich auf den wissenschaftlichen und journalistischen Erkenntnisprozess, sie vertraut in demokratische Wahlen und sie vertraut ihren politischen Vertreter:innen. Fällt dieses Vertrauen weg, wird der Prozess unwirksam. Hier setzt Desinformation an.

Sie gefährdet die Stabilität demokratischer Gesellschaften, indem sie Misstrauen sät, demokratische Korrektive diskreditiert und die faktenbasierte, geteilte Wirklichkeitserfahrung auflöst. Sie bringt nach journalistischen Standards arbeitende Journalist:innen in Miskredit und stellt evidenzbasiert arbeitende Wissenschaftler:innen als politisch motiviert dar. Sie behauptet, Wahlen seien manipuliert und bezeichnet Politiker:innen als gefährliche Verschwörer:innen. So beeinträchtigt Desinformation grundlegende Stützpfeiler demokratischer Gesellschaften.

Auswirkungen von Desinformation auf die demokratische Gesellschaft

Das Schadenspotenzial wird im Kontext aktueller gesellschaftlicher und politischer Herausforderungen deutlich: Wo ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg stattfindet, werden Beschlüsse zu Solidarität oder Sanktionen behindert. Wo zeitnahe Reaktionen auf die Klimakrise notwendig sind, ist eine gemeinsame Faktenbasis unerlässlich. Eine Gesellschaft, die das Vertrauen in ihre demokratischen Institutionen verliert, unseriösen Quellen glaubt und keine gemeinsame Faktenbasis als Debattengrundlage mehr hat, ist in ihrer demokratischen Entscheidungsfindung gelähmt. Eine solche Gesellschaft kann Herausforderungen und Krisen nur deutlich geschwächt entgegentreten.

Desinformation löst mehr in einer Gesellschaft aus, als auf den ersten Blick sichtbar wird. Die gefährliche Wirkung auf demokratische Gesellschaften entfaltet sich schleichend und langfristig.22 Entsprechend zentral sind frühzeitige, effektive Eindämmungsmaßnahmen, die Desinformation in ihrer Komplexität begreifen und sie frühzeitig wie langfristig bekämpfen.

Fußnoten

1 Jonas, U. (2022, 21. März). Polizei bezeichnet Behauptungen über angeblich in Euskirchen von Ukrainern getöteten Jugendlichen als „Fake”. https://correctiv.org/faktencheck/2022/03/21/polizei-bezeichnet-behauptungen-ueber-angeblich-in-euskirchen-von-ukrainern-getoeteten-jugendlichen-als-fake/

2 Lamberty, P. & Frühwirth, L. (2023, 24. Februar). Ein Jahr russischer Angriffskrieg: Die Rolle von Desinformation in Deutschland. https://cemas.io/publikationen/desinformation-und-angriffskrieg.

3 Bader, K. (2019, 14. August). Fake News: Viele kleine Lügen. Sueddeutsche.de. https://www.sueddeutsche.de/politik/fake-news-wahlen-luege-1.4562716-0

4 Reporters without Borders (2023). 2023 World Press Freedom Index – journalism threatened by fake content industry. https://rsf.org/en/2023-world-press-freedom-index-journalism-threatened-fake-content-industry?data_type=general&year=2023

5 Allroggen, A. & Baetz, B. (2023, 18. Mai). Wächter ohne Amt: Deutschlands Medien und die Demokratie. Deutschlandfunk.de. https://www.deutschlandfunk.de/deutschlands-medien-und-die-demokratie-100.html

6 Aspen Digital (2021, 10. Mai). Disinfo Discussions: History of Disinformation with Thomas Rid. https://youtu.be/tnyKgVpLcAM?t=1153

7 Meisner, M. (2022, 29. Juli). Immer mehr Parallelmedien: Angriffe aufs System. Tagesspiegel.de. https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/angriffe-aufs-system-8542357.html

8 Zick, A. & Küpper, B. (2021). Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21 (S. 289). https://www.fes.de/referat-demokratie-gesellschaft-und-innovation/gegen-rechtsextremismus/mitte-studie-2021

9 Best, V., Decker, F., Fischer, S. & Küppers, A. (2023). Demokratievertrauen in Krisenzeiten (S. 62). https://library.fes.de/pdf-files/pbud/20287-20230505.pdf

10 Correctiv Faktencheck (2021, 27. September). Diese Falschinformationen und irreführenden Gerüchte kursieren über die Bundestagswahl 2021. https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2021/09/27/diese-falschinformationen-und-irrefuehrenden-geruechte-kursieren-ueber-die-bundestagswahl-2021/

11 The Media Manipulation Case Book. Muddy the waters. https://mediamanipulation.org/definitions/muddy-waters

12 Werner, M.-C. (2023, 27. Januar). Wort der Woche: “Flood the zone with shit“ – erklärt von Bernhard Pörksen. https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/flood-the-zone-with-shit-erklaert-von-bernhard-poerksen-100.html

13 EU vs Disinfo (2020, 17. Juli). Sechs Jahre Lügen über MH17: Der Kreml verliert sein eigenes Spiel. https://euvsdisinfo.eu/de/sechs-jahre-luegen-ueber-mh17-der-kreml-verliert-sein-eigenes-spiel/

14 ZDF heute (2022, 17. November). Gericht in den Niederlanden: MH17: Drei Schuldsprüche und ein Freispruch. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/flug-mh17-absturz-urteil-niederlande-100.html

15 Rid, T. (2021). Active Measures: The Secret History of Disinformation and Political Warfare (S. 10f). Profile Books.

16 Presserat. Ethische Standards für den Journalismus. https://www.presserat.de/pressekodex.html

17 Wagner, A. (2021, 5. Mai). Wissenschaft: Objektiv und allgemeingültig? https://www.mdr.de/wissen/mensch-alltag/wie-objektiv-ist-die-wissenschaft-100.html

18 Branahl, U. & Donges, P. (2011, 8. Juni). Warum Medien wichtig sind: Funktionen in der Demokratie. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/massenmedien-309/7492/warum-medien-wichtig-sind-funktionen-in-der-demokratie/

19 Bundeszentrale für politische Bildung. Politische Willensbildung. https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/18045/politische-willensbildung/

20 Nohlen, D. Wahlen/Wahlfunktionen. https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/handwoerterbuch-politisches-system/202208/wahlen-wahlfunktionen/

21 Bundeszentrale für politische Bildung. Repräsentative Demokratie. https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/18137/repraesentative-demokratie/

22 Rid, T. (2021). Active Measures: The Secret History of Disinformation and Political Warfare (S. 11). Profile Books.

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