Die Inszenierung einer empörten Öffentlichkeit
2. September 2021
Die Inszenierung einer empörten Öffentlichkeit
Die Querdenken-Demonstrationen im August 2021 haben wieder einmal vor Augen geführt, dass die Bewegung nicht mehr wie im vergangenen Jahr mobilisieren kann – nur mehr etwa 5.000 Teilnehmende haben sich den Aufrufen für die nicht-genehmigten Demonstrationen am 01.08. und 29.08. angeschlossen. Im vergangenen Jahr hatten nach Angaben der Polizei noch etwa 38.000 Menschen auf der Straße des 17. Junis demonstriert. Aber auch diese Zahl wurde damals durch Anhänger:innen nicht akzeptiert – innerhalb des Milieus sprach man von 1,3 Million bis zu 3,5 Millionen Menschen, die angeblich an diesen beiden Tagen nach Berlin gekommen wären:
Screenshots unterschiedlicher Quellen zur Größe der Querdenken-Demonstrationen in 2021 und 2020
Diese Inszenierung führt sich auch dieses Jahr wieder fort: Aus 5.000 Menschen wurden 50.000, aus einer gescheiterten Demonstration um Pfingsten 2021 sogar Hunderttausende gemacht (siehe Screenshot-Zusammenschnitt). Dies wurde oft als Fehldarstellung belächelt, allerdings steckt dahinter eine Strategie: Das verschwörungsideologische Milieu versuchte sich schon früh als gesellschaftliche Mehrheit darzustellen. Man suggerierte, dass man für eine schweigende Mehrheit spräche oder meinte, dass die Medien und Behörden die Teilnehmendenzahlen absichtlich kleinredeten, um die Bewegung zu schwächen.
Die Simulation einer Mehrheit
Die Selbstinszenierung als scheinbare Mehrheit der Gesellschaft wird aber nicht nur im Kontext der Teilnehmer:innenzahlen auf den Demonstrationen durchgeführt, sondern spiegelt sich in zahlreichen anderen Aktionen aus der Szene wider. Als die Demonstrationen im vergangenen Jahr bereits durch die Senatsverwaltung Berlin untersagt worden waren, stellte die Querdenken-nahe Organisation der sogenannten „Klagepaten“ eine Plattform im Netz zur Verfügung, mit der eigene Demonstrationen in Berlin angemeldet werden konnten. Und diese Methode hatte Erfolg: Nach Angaben der Polizei wurden innerhalb von wenigen Stunden über 1.000 solcher Demonstrationen angemeldet.
Werbung der Klagepaten für die Anmeldung von Demonstrationen in Berlin, die Nachricht wurde 177.000 Mal gesehen
Auch die Polizei selbst war wiederholt Ziel solcher Aktionen: Während der sogenannte „Corona-Infotour“ des im verschwörungsideologischen Milieu sehr bekannten Arztes Bodo Schiffmann und des Schweizer Unternehmers Samuel Eckert wurden im Herbst 2020 zahlreiche Orte in Deutschland angefahren und sowohl Tour selbst als auch die damit verbundenen Kundgebungen umfassend per Livestream begleitet. Als am 09. November aufgrund der damaligen Einreisebestimmung für Mecklenburg-Vorpommern Greifswald und Ludwigslust nicht angefahren werden durfte und die Polizei an der Grenze des Bundeslandes den Bus anhielt, wurde der Polizeichef von Neubrandenburg, Torsten Rusch, als vermeintlich ursächliche Person der Maßnahme identifiziert. Noch während des Livestreams, der zu Spitzenzeiten bis zu 80.000 Live-Zuseher:innen erreichte, wurden direkt herunterladbare Vorlagen für Strafanzeigen gegen Torsten Rush durch den Anwalt Markus Haintz erstellt und Anleitungen zur Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Rusch geteilt, mit welcher die zuständige Polizeibehörde geflutet wurde.
Eine vorgefertigte Strafanzeige gegen den Polizeichef Torsten Rusch, angefertigt durch Markus Haintz (gespiegelt auf einem anderen Kanal). Die Nachricht wurde 123.000-mal gesehen.
Dokumentenvorlage als politisches Instrument
Herunterladbare Vorlagen wie diese findet man auf Telegram täglich: Ob Briefvorlagen für Schuldirektor:innen über die vermeintliche Schädlichkeit von Masken oder Impfungen, Vorlagen für „Brandbriefe“ an Abgeordnete, wenn diese dem Infektionsschutzgesetz zustimmen wollen, Vorlagen für Elternabende oder Vorlagen für Briefe an lokale Zeitungsredaktionen - für fast jede Institution existieren Dokumente, die in dieser Szene weit verbreitet werden.
Diese Vorlagen werden oft durch bekannte Gruppierungen und Organisationen aus dem Milieu wie den vorher genannten „Anwälten für Aufklärung“, „Eltern stehen auf“ oder den oben genannten „Klagepaten“ erstellt. Ein Brandbrief an die Abgeordneten (inklusive angehängtem E-Mail-Verteiler des Bundestags) zur Abstimmung über den „Antrag der Regierungsfraktionen zur Feststellung des Fortbestandes der epidemischen Lage von Nationaler Tragweite“ wurde sogar direkt durch den AfD Abgeordneten Johannes Huber laut netzpolitik.org unter anderem im sogenannten Freiheits-Chat von Attila Hildmann gepostet. Die Datei „Brandbrief an die Regierungsfraktionen.docx“ enthielt in den Metadaten auch Informationen über den Urheber, was diese Einordnung unterstützt . Und dieser Ansatz hat Erfolg: Zur Abstimmung am 18. November erreichten z. B. den CSU-Abgeordneten Alexander Dobdrindt allein laut Bericht des MDR 37.000 E-Mails.
Auch unbekanntere Personen können Ersteller:innen dieser Massendokumente sein. Der private Kanal „Briefe / Schreiben“ (sic!) hat beispielsweise allein den Zweck, diese Dokumente zu sammeln und dann weiterzuverteilen. Es wurden 54 Briefvorlagen angefertigt, welche in hunderten Kanälen geteilt wurden und teilweise mehr als 80.000-mal abgerufen wurden. In den Metadaten der Dokumente lässt sich eine Shirin aus München als Autorin ausmachen. Als Hintergrund für die Erstellung des Kanals gibt besagte Shirin an, dass jede:r die Inhalte der Schreiben an „Ministerien, Behörden und sonstige Einrichtungen“ kopieren dürfte:
„Hallo meine Lieben, Wie versprochen werde ich in diesem Kanal alle Schreiben die ich an Ministerien, Behörden oder sonstige Einrichtungen verschicke, als PDF ablegen. Hier sind “Plagiate” erlaubt 😂 Jeder der möchte darf den kompletten Inhalt oder auch nur Teile der Dokumente übernehmen! Keine Maßnahmen wie Mindestabstand oder Masken für unsere Kinder! Laßt uns für unsere Kinder einstehen und erst aufhören wenn wir unser Ziel erreicht haben!“ Shirin
Dieses Fluten von Behörden und Institutionen bedient dabei zwei Ziele: Sie sollen die Behörden handlungsunfähig machen, etwa durch die gleichzeitige Anmeldung tausender Demonstrationen. Auch bei Politiker:innen werden so Kapazitäten gebunden. Wer es gewöhnt war, jeder Zuschrift zu antworten, sieht sich angesichts der Flut von eingehenden Nachrichten einer zeitintensiven Aufgabe gegenübergestellt. Das Binden von Kapazitäten ist aber nicht die einzige Intention, die hier verfolgt wird: Dieses “Spamming” soll den Angesprochenen auch vermitteln: Wir sind viele. Wenn nicht sogar: Wir sind die Mehrheit. “Spaming” ist im Kontext von Behörden schon seit Jahren als Methode aus der sog. „Reichsbürger“-Szene bekann.
Durch dieses Fluten mit Nachrichten soll Druck auf z. B. Politiker:innen aufgebaut werden, so dass diese meinen, einer großen empörten Öffentlichkeit gegenüberzustehen. Diese Taktik hat leider auch in der Vergangenheit mehrfach funktioniert: So äußerte sich der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer beispielsweise gegenüber der Chemnitzer „Freien Presse“ in einem Interview vom 08.01 .2021, dass er bezüglich der Maßnahmen eine polarisierte Öffentlichkeit wahrnehme: Auf seiner Facebook-Seite sei das Verhältnis fast 50:50 zwischen Zustimmung zur Maßnahme und Leugnung des Corona-Virus. Dabei handelt es sich um ein Zerrbild der Wirklichkeit: Facebook-Kommentierende sind nicht repräsentativ für den Bevölkerungdurchschnitt. Laut den Erhebungen von COSMO – COVID-19 Snapshot Monitoring waren nur 7% der Befragten zu diesem Zeitpunkt vollkommen der Meinung, dass die Maßnahmen zu weit gehen würden.
Diese Methode kann zu Problemen bei der Repräsentation von Wähler:innen führen. Aus verschiedenen Forschungsarbeiten weiß man, dass die Meinungsbildung bei Politiker:innen auch durch das direkte Feedback von Wähler:innen beeinflusst wird. Durch gezielte Aktionen aus dem Querdenkenspektrum werden diese Meinungen dann überschätzt, was sich wiederum auf politische Entscheidungen direkt auswirken kann, wie Studien belegen (Broockmann, Skovron 2018; Bergan, Cole 2015).
Auf vermeintliche Manipulation folgt Gegenmanipulation
Aufruf zur Manipulation einer Umfrage. Der Telegrambeitrag wurde über 400.000-mal gesehen - an der Umfrage wurde vor Löschung über 80.000 Mal die gewünschte Option geklickt.
Nicht nur E-Mails, auch Onlineumfragen werden immer wieder Ziel von Manipulationsversuchen des Milieus. Dies kann sich auch wieder real auswirken: Ergebnisse werden dann so gedeutet als würde es sich um eine Mehrheit handeln, die beispielweise Maßnahmen in Schulen ablehnt. Auch Wissenschaftler:innen sehen sich mit diesen Problemen konfrontiert, da die eigenen Ergebnisse, wenn sie beispielsweise über Telegram erhoben wurden, kaum belastbar sind, da entweder zur Nichtteilnahme oder Manipulation aufgerufen wird (Nachtwey et al. 2020).
Innerhalb des verschwörungsideologischen Milieus ist man sich natürlich darüber bewusst, dass es sich hier um eine bewusste Verzerrung handelt. Es handelt sich hier um eine sog. „Blue Lie“: Man weiß, dass man lügt, glaubt aber, dies für ein scheinbar höhere Ziel im Namen der Gemeinschaft zu tun. Da viele der Überzeugung sind, dass die Umfrage im Vorhinein manipuliert wären, agieren sie in ihrem Sinne viel eher „korrigierend“.
Diese Korrektur trifft dabei sogar auch Umfragen im Teletext (siehe Screenshot). Umfragen, welche sich weniger dazu eignen, manipuliert zu werden – beispielsweise repräsentative Umfragen zur Wahlpräferenz der Bundestagwahl – gelten entsprechend innerhalb eines verschwörungsideologischen Weltbildes als durch die „Mächtigen“ korrigiertes/manipuliertes Wunschbild. Entsprechend vermuten sie in eigens manipulierten Umfragen mehr Wahrheit als in repräsentativ erarbeiteten Wahlumfragen.
Verweis auf eine Umfrage im Teletext wonach sich eine große Mehrheit der Bevölkerung nicht impfen lasse
Allerdings wird nicht nur mit öffentlicher Empörung gearbeitet, sondern auch mit „Lovebombing”: Personen, die sich konform gegenüber den Forderungen der Szene zeigen oder die Sympathie bekunden, werden häufig mit positiven Nachrichten überschüttet. Zuletzt trifft das zum wiederholten Male den UN-Beauftragten für Folter Nils Melzer, welcher sich auf Twitter bestürzt über die Videos äußert, welche ihm Polizeigewalt gegen Demonstrierenden in Berlin zeigten. Es gab in der Szene Aufforderungen, direkt mit Melzer in Kontakt zu treten – dabei spielt auch immer wieder ein Loben des Verhaltens des Beauftragten eine große Rolle: Im Querdenken-Netzwerk gibt es mit den sogenannten „Mutigmachern“ sogar eine eigene Organisation, welche vermeintlichen Whistleblowern und „Aussteigern“ der Behörden durch positive Bestärkung zu solchen Aussagen animieren will. Dieses „Lovebombing“ währt aber oft nicht lange: Werden Haltungen vertreten, die der eigenen Positionen widersprechen, ist die Wut auf die betreffende Person oft umso größer.
Beitrag des Szeneanwalt Markus Haintz zu Mails ans den UN-Beauftragten für Folter Nils Melzer, der Beitrag wurde über 70.000-mal gesehen.
Die Inszenierung nicht mitspielen
Problematisch wird diese Strategie vor allem dann, wenn diese Inszenierung einer empörten Öffentlichkeit auch Wirkung entfaltet: Der Druck kann auf Politiker:innen, Polizist:innen und Schulen so groß wirken, dass sie ihm womöglich nachgeben. Von außen ist es oft schwer feststellbar, ob es sich um eine koordinierte Aktion oder wirkliche Sorgen und Ängste handelt. Hier braucht es mehr Hilfestellung und Handlungsanweisungen für die Mitarbeiter:innen in diesen Insitutionen: Auch bei Reichsbürger:innen war und ist ein Fluten mit vorgefertigten Dokumenten aus dem Netz seit Jahren ein bekanntes Phänomen, für das es aber mittlerweile durchaus Handreichungen gibt. Politiker:innen müssen darüber aufgeklärt werden, was sie tun können, wenn Sie Ziel solcher Kampagnen werden. Auch Einzelpersonen benötigen mehr (rechtlichen) Schutz, wenn sie in das Fadenkreuz solcher Aufrufe geraten.
Denn auch wenn Querdenken sich derzeit schwer tut mit einer Mobilisierung auf der Straße: Im Netz haben sie ein dichtes Kommunikationsnetzwerk geschaffen. Ein Netzwerk, welches immer wieder auf solche Inszenierungen zurückgreift und stets reaktiviert werden kann.
Literatur
Bergan, Daniel E., und Richard T. Cole. „Call Your Legislator: A Field Experimental Study of the Impact of a Constituency Mobilization Campaign on Legislative Voting“. Political Behavior 37, Nr. 1 (1. März 2015): 27–42. https://doi.org/10.1007/s11109-014-9277-1.
Broockman, David E., und Christopher Skovron. „Bias in Perceptions of Public Opinion among Political Elites“. American Political Science Review 112, Nr. 3 (August 2018): 542–63. https://doi.org/10.1017/S0003055418000011.
Nachtwey, Oliver, Robert Schäfer, und Nadine Frei. „Politische Soziologie der Corona-Proteste“. SocArXiv, 16. Dezember 2020. https://doi.org/10.31235/osf.io/zyp3f.