Israelbezogener Antisemitismus: Unterschätzte Gefahr

Autor:innen: Jan Rathje, Josef Holnburger, Corinne Heuer

Seit dem Beginn der Terrorangriffe auf Israel verbreiten unterschiedliche Akteur:innen Desinformationen und Propagandanarrative der palästinensischen Terrororganisationen. Bestehende Feindbilder werden hierbei bestätigt und weiter ausgebaut, antisemitische Vorstellungen manifestiert und die Brutalität der Hamas wird als vermeintlicher „Freiheitskampf“ oder „Widerstand“ legitimiert. Israel, der Zionismus und Jüdinnen:Juden sind dabei kein zufälliges Ziel von Verschwörungsideologien und Desinformation.

Am 7. Oktober 2023 verübten die islamistischen und antisemitischen Terrororganisationen Hamas und Islamischer Dschihad eine Serie von Terroranschlägen gegen die israelische Bevölkerung. Bei diesem Angriff wurden mehr als 1.400 Menschen getötet – es handelte sich um die bisher größte Anschlagserie in der Geschichte Israels. Die Terroristen feuerten aus dem Gaza-Streifen tausende Raketen auf Israel ab und überwanden die Grenzanlagen, um in grenznahen israelischen Gebieten und Städten hunderte Menschen zu ermorden. Bei ihren Anschlägen nahmen Mitglieder der beteiligten Terrororganisationen über 220 Geiseln und verschleppten sie in den Gaza-Streifen. Als Reaktion flog die israelische Luftwaffe Angriffe auf strategische Ziele im Gaza-Streifen bei denen Mitglieder der Terrororganisation und auch Zivilist:innen getötet wurden. Seit dem 8. Oktober 2023 befindet sich Israel offiziell im Krieg gegen die Hamas und andere palästinensische Terrororganisationen.

Desinformationen und Verschwörungserzählungen im Kontext des Terrorangriffs der Hamas auf Israel

Seit dem Beginn der Terrorangriffe auf Israel verbreiten unterschiedliche Akteur:innen Desinformationen – viele davon finden sich auf Telegram und X, vormals Twitter (nachfolgend X). Laut NewsGuard diente hier vor allem X als Multiplikator – dort verbreitete Falschnachrichten fanden sich anschließend auch auf anderen Plattformen, wie Facebook, Instagram, TikTok oder Telegram. Ihre Analyse verdeutlicht, dass nicht nur eine Vielzahl von unterschiedlichen Narrativen geteilt wurden, sondern auch, dass sie größtenteils von „verifizierten“ Accounts stammten und nicht einmal ein Drittel als Falschnachrichten gekennzeichnet waren. So behaupteten etwa pro-russische Accounts fälschlicherweise, dass Waffen aus der Ukraine an die Hamas geliefert worden seien, um gegen Israel eingesetzt zu werden. Eine Falschbehauptung, die auch von deutschsprachigen pro-russischen Akteur:innen sehr früh verbreitet wurde.

Falschbehauptung über angebliche Waffenlieferungen an die Hamas durch die Ukraine, verbreitet durch die pro-russische Desinformations-Influencerin Alina Lipp am 8. Oktober
Abbildung 1 – Falschbehauptung über angebliche Waffenlieferungen an die Hamas durch die Ukraine, verbreitet durch die pro-russische Desinformations-Influencerin Alina Lipp am 8. Oktober

Als es am Abend des 17. Oktober 2023 zu einer Explosion an einem Krankenhaus in Gaza kam, wurde eine Nachricht der Hamas, dass es sich um eine israelische Rakete gehandelt haben soll, die 500 Menschen getötet hätte, über soziale Medien verbreitet. Die israelische Armee dementierte einen solchen Angriff und gab an, dass es sich um die Folgen einer fehlgeleiteten Rakete der palästinensischen Terrorgruppe Islamischer Dschihad gehandelt habe. Die Angaben von Kriegsparteien lassen sich unmittelbar nach den Ereignissen nur schwer überprüfen. Besonders problematisch war in diesem Fall die zunächst einseitige Übernahme der Mitteilung der Hamas unmittelbar nach der Explosion auch durch öffentlich-rechtliche Medien, da aktuelle unabhängige OSINT-Recherchen die Aussagen der israelischen Armee stützen. Es handelte sich höchstwahrscheinlich um eine fehlgeleitete Rakete des Islamischen Dschihad.

Seit dem Angriff der palästinensischen Terrororganisationen greift das deutschsprachige verschwörungsideologische Milieu solche Falschbehauptungen nicht nur wiederholt auf, es ist mitunter auch der Ursprung dieser Desinformationen. Tradierte antisemitische Verschwörungserzählungen werden aktualisiert und auf die aktuellen Ereignisse angewandt. Der rechtsextreme Verantwortliche des reichweitenstarken „alternativen“ Mediums AUF1, Stefan Magnet, verbreitete am 9. Oktober LIHOP (Let it happen on purpose) Erzählungen, denen zufolge die israelische Regierung im Geheimen von den Terroranschlägen gewusst und sie bewusst zugelassen haben soll. Israel wird in dieser Konstruktion vom Opfer zum Täter gemacht: So würde Israel angeblich auch vor der Ermordung der eigenen Bevölkerung nicht zurückschrecken, sondern sogar von ihr profitieren oder vermeintlich geheime Pläne damit umsetzen wollen. Solche Dämonisierungen können wiederum zur moralischen Legitimation von Gewalttaten bis hin zum als Widerstand geframten Terror gegen Israelis genutzt werden. 

Stefan Magnets verschwörungsideologischer und antisemitischer Einordnung des Terrorangriffs auf Israel
Abbildung 2 – Stefan Magnets verschwörungsideologischer und antisemitischer Einordnung des Terrorangriffs auf Israel

In aktuellen Videos behaupten Magnet und weitere Verschwörungsideolog:innen, dass Israel durch eine weitere Eskalation des Nahostkonflikts gezielt die Fluchtbewegung nach Europa steigern möchte und greifen damit rassistische und antisemitische Verschwörungserzählungen wie den „Großen Austausch“ (Great Replacement) auf.

Strukturelle Parallelen von Antisemitismus und Verschwörungsideologien

Israel, der Zionismus und Jüdinnen:Juden sind nicht zufällig Ziel von Verschwörungsideologien und Desinformation. Antisemitismus und Verschwörungsideologien sind auf verschiedenen Ebenen miteinander verbunden. Der Mythos einer vermeintlich stattfindenden „jüdischen Weltverschwörung“ lässt sich im christlichen Europa seit dem Spätmittelalter nachweisen. Moderne Verschwörungsideologien greifen auf diesen tradierten Wissensbestand zurück, wenn es darum geht, mutmaßliche Verschwörer:innen konkret zu benennen, etwa wenn jüdische Menschen (Familie Rothschild, George Soros) oder überproportional viele jüdische Menschen hinter allem Übel der Welt stecken sollen. Die um 1900 veröffentlichte antisemitische Hetzschrift Die Protokolle der Weisen von Zion kann als Blaupause für moderne Verschwörungsideologien aufgefasst werden. Eine deutsche Ausgabe der Protokolle trug bereits vor der Gründung Israels den Titel Die Zionistischen Protokolle. Das Programm der internationalen Geheim-Regierung.
Zwischen Antisemitismus und Verschwörungsideologien bestehen außerdem strukturelle Parallelen. Beide personifizieren abstrakte und vermittelte gesellschaftliche Verhältnisse, indem sie eindeutig konkret identifizierbare Menschen(-gruppen) für als negativ wahrgenommene Prozesse verantwortlich machen. Dabei folgen sie einem Manichäismus, dessen Vorstellung der Welt durch eine mutmaßlich stattfindende Entscheidungsschlacht zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis gekennzeichnet ist. Als drittes Strukturelement kann das Denken in identitären Kollektiven verstanden werden, demzufolge nicht Individuen bestimmte Eigenschaften besitzen – die etwa aus individuellen, sozialen und kulturellen Kontexten entstehen können –, sondern Individuen aufgrund ihrer (religiösen, kulturellen, „rassischen“) Gruppenzugehörigkeit unveränderliche Eigenschaften besäßen.
Verschwörungsvorwürfe ziehen sich durch alle Ausdruckformen der Jüdinnen:Judenfeindschaft, von religiös begründetem Antijudaismus bis zu israelbezogenem Antisemitismus. Hinzu kommt die seit der Shoah weiter verbreitete implizite Ausdrucksform von Verbalantisemitismus durch Codes und Chiffren (Finanzeliten, Soros/Rothschild, NWO, Khasaren, Ritualmordlegende etc.), die in Verschwörungsideologien und -mythen genutzt werden. Der Übergang von implizitem zu explizitem Antisemitismus lässt sich besonders im Internet nachverfolgen. Es verwundert deshalb nicht, dass das deutschsprachige verschwörungsideologische Milieu die Terrorangriffe gegen Israel aufgreift und durch bestehende antisemitische Verschwörungsmythen interpretiert.

Antisemitismus verbleibt nicht im Netz, er ist eine konkrete Bedrohung für Jüdinnen und Juden

Israelbezogener Antisemitismus stellt eine besondere Herausforderung in der Antisemitismusbekämpfung dar. In ihm wird Israel als Projektionsfläche für antisemitische Einstellungen genutzt, während die Verbreitenden behaupten, lediglich „Israelkritik“ zu betreiben. Anstatt israelische Politik zu kritisieren, was entgegen einer verbreiteten Auffassung nicht verboten ist, werden beim israelbezogenen Antisemitismus antijudaistische und antisemitische Stereotype aktualisiert und mit Israel verknüpft. So stellt etwa die antisemitische Parole „Kindermörder Israel“ eine Aktualisierung des mittelalterlichen Ritualmordvorwurfs gegen Jüdinnen:Juden dar. Eine Langzeitstudie zu Verbalantisemitismus im Internet kommt zu dem Ergebnis, dass eine Israelisierung der antisemitischen Semantik stattgefunden habe.1 Die Studie zeigt außerdem auf, dass israelbezogener Antisemitismus besonders mit der Emotion Wut verbunden ist, und auch ohne konkreten thematischen Bezug zum Nahostkonflikt verbreitet wird. Es ist daher besonders problematisch, wenn Desinformationen, Propaganda und ungeprüfte Aussagen der Kriegsparteien, wie im Beispiel des eingangs erwähnten vermeintlichen Raketenangriffs auf ein palästinensisches Krankenhaus, insbesondere durch etablierte Medien verbreitet werden. Bestehende Feindbilder werden hier bestätigt oder weiter ausgebaut und antisemitische Vorstellungen manifestiert. Derzeit wird dies besonders bei den antiisraelischen Demonstrationen deutlich, welche die Brutalität der Hamas als vermeintlichen „Freiheitskampf“ oder „Widerstand“ legitimieren und die durch die Übernahme von Propaganda- und Desinformationsnarrativen weiter angeheizt werden.

Die kollektive Schuldzuschreibung von Jüdinnen:Juden weltweit für die Israel vorgeworfenen Taten bedeuten eine große Gefahr für deren Leben. Für die erste Woche nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel verzeichnete der Bundesverband RIAS 202 verifizierte antisemitische Vorfälle, die fast vollständig dem israelbezogenen Antisemitismus zuzurechnen seien. Im Vergleich zum Vorjahr bedeute dies einen Anstieg um 240 Prozent. Bis zum 18. Oktober zählte die Berliner Polizei 360 Straftaten mit Bezug auf den Nahostkonflikt. In Berlin ereignete sich am 18. Oktober ein Brandanschlag auf ein jüdisches Gemeindezentrum. Auch an vielen weiteren Orten in Deutschland und weltweit steigt die Anzahl an Übergriffen, Angriffen und Bedrohungen gegen Jüdinnen:Juden. Eine Situation, welche durch die Verbreitung von antisemitischen Verschwörungserzählungen und Desinformationen befeuert wird, da sie häufig als Rechtfertigung für antisemitische Taten herangezogen werden.

Fazit

Mit dem 7. Oktober fand der größte Anschlag auf Jüdinnen:Juden seit der Gründung des israelischen Staates statt. Der Angriff der terroristischen Hamas und des Islamischen Dschihad wird von Desinformationen begleitet, die mitunter auch vom deutschsprachigen verschwörungsideologischen Milieu aufgegriffen werden, indem die aktuellen Entwicklungen in Israel in tradierte antisemitische Verschwörungserzählungen eingeordnet werden. Jüdinnen:Juden werden auch in diesem Milieu zu vermeintlichen Tätern gemacht und erfahren eine kollektive Schuldzuschreibung, welche sich in einer deutlichen Zunahme von antisemitischen Straftaten weltweit zeigt.

Die Bilder antiisraelischer Demonstrationen und Studien der Antisemitismusforschung machen allerdings auch deutlich, dass israelbezogener Antisemitismus in Deutschland eine Herausforderung für unsere postmigrantische Gesellschaft ist: So ist insbesondere israelbezogener Antisemitismus unter Migrant:innen aus der MENA-Region und Muslim:innen besonders verbreitet. Erklärungsansätze für die hohen Zustimmungswerte sind sowohl der in den Herkunftsstaaten propagierte Antisemitismus, als auch die erlebten Diskriminierungserfahrungen in Deutschland, die zu einer gesteigerten Identifikation mit Palästinenser:innen und Muslim:innen weltweit führen könne. Es ist in der Bekämpfung und Eindämmung von israelbezogenem Antisemitismus daher geboten, die bereits existierenden Maßnahmen für diese Problemlage innerhalb migrantischer und muslimischer Bevölkerungsgruppen auszubauen und zu verstetigen. Die rassistische Instrumentalisierung und Externalisierung von Antisemitismus stellen dabei keine Lösung für diese gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar.

Neben verstärktem Schutz jüdischer Einrichtungen und der konsequenten Strafverfolgung antisemitischer Straftaten ist auch ein entschiedeneres Vorgehen gegen die im Netz verbreiteten antisemitisch motivierten Desinformationen und Verschwörungserzählungen, welche häufig von Gewaltaufrufe gegen Jüdinnen:Juden begleitet werden, dringend nötig. Die Gefahren des lange ignorierten israelbezogenen Antisemitismus sind derzeit besonders eindrücklich. Israelbezogener Antisemitismus ist ein besonderes Problem innerhalb von Bevölkerungsgruppen mit Migrationsgeschichte – aber nicht ausschließlich: Der Diskurs auf Telegram zeigt, dass hier verschwörungsideologische und rechtsextreme Akteur:innen etablierte Feindbilder aufgreifen und verstärken. Es braucht also eine gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung im Umgang mit israelbezogenen Antisemitismus.

Fußnoten

1 Schwarz-Friesel, Monika (2019): Judenhass im Internet. Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl. Berlin, Leipzig: Hentrich & Hentrich.

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