Der Corona-Effekt?
Herausforderungen einer post-pandemischen Gesellschaft
24. September 2021
Das Coronavirus Sars-Cov-2 hat binnen kürzester Zeit die gesamte Welt auf den Kopf gestellt. Nicht nur musste den Herausforderungen einer Pandemie medizinisch, logistisch und gesellschaftlich begegnet werden, sondern auch ein Umgang mit neuen Milieus wie »Querdenken« gefunden werden. Andere gesellschaftliche Themen, die vor der Pandemie diskutiert wurden wie beispielsweise der Klimawandel, sind in den Hintergrund gerückt.
Nun steigen die Fallzahlen wieder an, selbst Länder mit hohen Impfquoten verzeichnen teilweise neue Rekordzahlen. Gleichzeitig wird darüber diskutiert, dass ein Lockdown nicht mehr in Frage kommen würde und wenn nur Ungeimpfte betreffen sollte. Ein Online-Simulator berechnet unter www.pandemieende.de bereits das Ende der Pandemie – basierend auf der Annahme einer landesweiten Immunität von 80 Prozent. Das alles wirft die Frage auf, wie Pandemien eigentlich enden. Wenn der Virus ausgerottet ist? Wenn die Zahlen niedrig sind? Oder wenn Menschen lernen, mit dem Virus zu leben? Und gleichzeitig kann man sich die Frage stellen, was mit Gesellschaften passiert, die eine Pandemie überwunden haben.
Wann ist es da, das Ende einer Pandemie?
In der Wissenschaft wird zwischen mindestens zwei Arten unterschieden, nach denen eine Pandemie enden kann: einem medizinischen und einem sozialen Ende. Manche Modelle nehmen auch noch das politische Ende mit auf. Das wäre beispielsweise erreicht, wenn eine Institution wie die WHO oder eine Regierung entscheiden würde, dass die Pandemie beendet sei. Man spricht dagegen von einem medizinischen Ende, wenn die Zahl der Menschen, die an dem Virus erkranken, stark zurückgegangen ist. Das ist meistens der Fall, wenn eine große Anzahl immun gegen das Virus ist – entweder weil sie eine Erkrankung überstanden haben oder weil sie geimpft wurden.
Das soziale Ende meint dagegen, wenn Menschen sich dazu entscheiden, dass die Pandemie nun zu Ende sei. Wenn sie weniger Angst vor der Erkrankung haben, keine Einschränkungen mehr wollen oder eben meinen, mit der Krankheit leben zu können. Allan Brandt, ein Harvard-Historiker, sagte der New York Times bereits im Mai 2020: “Wie wir in der Debatte um die Öffnung der Wirtschaft gesehen haben, werden viele Fragen über das sogenannte Ende nicht durch medizinische und gesundheitliche Daten, sondern durch gesellschaftspolitische Prozesse bestimmt.” Ein Problem an dem sozialen Ende kann sein, dass es bei einem erneuten Anstieg von Infektionen (z.B. im Zuge von neuen Mutationen) schwerer sein wird, Menschen wieder zum Einhalten von Maßnahmen zu bewegen. Auch kann es dazu führen, dass die Notwendigkeit einer Impfung weniger leicht vermittelt werden kann, was wiederum die Eindämmung der Pandemie erschwert. Bereits im Mai 2020 warnten Wissenschaftler:innen in einem Artikel, der im Wissenschaftsmagazin Nature veröffentlicht wurde, dass die Anti-Impf-Bewegung die Bemühungen zur Beendigung der Pandemie untergraben könnte. Radikale Impfgegner:innen können es so noch einmal erschweren, impfskeptische Personen zu motivieren, sich impfen zu lassen.
Gesellschaftliche Spannungen während einer Pandemie
Die Menschen haben in den letzten Monaten einen kollektiven Kontrollverlust erlebt, mussten sich einschränken, um die Pandemie eindämmen zu können. Arbeitslosigkeit oder übermäßige Belastungen sind zusätzliche Herausforderungen, die die Pandemie mit sich brachte. Pandemien – und dies gilt auch für die COVID-19-Pandemie – können soziale Ungleichheiten noch einmal verschärfen. Eine Analyse von den Forscher:innen Roberto De Santis und Wouter Van der Veken hat beispielsweise gezeigt, dass die Spanische Grippe die Einkommensungleichheit in verschiedenen Ländern auch nach ihrem Ende signifikant erhöht hat. Auch Geschlechterungleichheit kann während Pandemien zunehmen - das zeigt sich aktuell weltweit: Frauen übernahmen mehr Aufgaben der Care-Arbeit im Lockdown (Betreuung von Kindern und Angehörigen). Zudem waren Frauen ökonomisch stärker betroffen. Die Europäische Kommission stellte in ihrem Bericht über die Gleichstellung der Geschlechter 2021 sogar fest, dass „die Pandemie die bestehenden Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern in fast allen Lebensbereichen verschärft und hart erkämpfte Fortschritte der vergangenen Jahre wieder zunichtegemacht“ habe.
Auch die verschwörungsideologische Mobilisierung verschärft die gesellschaftliche Stimmung noch einmal. Die Attacken gegen die Presse in Deutschland stiegen 2020 stark an und verdoppelten sich nach den Zahlen der Bundesregierung im Vergleich zum Vorjahr. Noch dramatischere Werte berichtet die Organisation Reporter ohne Grenzen: Sie zählte im Pandemiejahr 2020 mindestens 65 gewalttätige Angriffe gegen Journalisten, fünfmal so viele wie im Vorjahr. Deswegen stufte Reporter ohne Grenzen die Pressefreiheit im April 2021 von „gut“ auf nur noch „zufriedenstellend“ herunter. Auch antisemitische Vorfälle stiegen im Verlauf der Pandemie in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, an: 2020 gab es laut der Statistik “Politisch Motivierte Kriminalität (PMK)” 2.351 antisemitische Straftaten – ein Anstieg von 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und so viel wie seit 2001 nicht. Die PMK zeigte auch bei rechtsextremen Straftaten einen Höchststand mit 23.604 Delikten. Die Polizei registrierte auch mehr als 3.500 Straftaten bei Corona-Protesten.
Die post-pandemische Gesellschaft
Dies sind keine neuen Phänomene, auch vorherige Pandemien forderten die Menschen und Gesellschaften heraus. Trotzdem ist es wichtig zu verstehen, welche Herausforderungen jetzt auf unsere Gesellschaft zukommen können. Soziale Ungleichheit wird auch nach dem Ende der COVID-19 Pandemie nicht einfach verschwinden.
Die Forscher:innen Tahsin Saadi Sedik und Rui Xu analysierten beispielsweise die Auswirkungen vergangener großer Pandemien aus ökonomischer Sicht in 133 Ländern im Zeitraum von 2001 bis 2018. Dazu zählte der SARS-Ausbruch im Jahr 2003, H1N1 im Jahr 2009, MERS im Jahr 2012, Ebola im Jahr 2014 und Zika im Jahr 2016. Die Forscher:innen kamen zu dem Ergebnis, dass soziale Unruhen bei jedem dieser Ausbrüche beständig zunahmen. In ökonometrischen Analysen zeigten sie, dass vergangene große Pandemien mittelfristig zu einem signifikanten Anstieg sozialer Unruhen führten, da sie das wirtschaftliche Wachstum reduzierten und die Ungleichheit erhöhten. Mehr soziale Unruhen waren wiederum mit geringerem Wachstum verbunden, was die Ungleichheit verschlimmerte. „Pandemien“, so schreiben die Autor:innen der Studie, „können einen Teufelskreis aus wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit, Ungleichheit und sozialen Unruhen in Gang setzen“. Besonders stark war der Effekt dort, wo die Einkommensungleichheit vor der Pandemie besonders hoch war.
Ähnliche Ergebnisse finden sich auch bei einer anderen Studie, die noch längere Zeitabschnitte miteinander aus einer historischen Perspektive vergleicht. Im Rahmen der Studie, die im August 2020 in der Zeitschrift Peace Economics, Peace Science and Public Policy veröffentlicht wurde, untersuchten die Forscher:innen Massimo Morelli, und Roberto Censolo 57 Epidemien – von der Pest im Mittelalter bis zur Spanischen Grippe Anfang des 20. Jahrhunderts. Auch sie konnten zeigen: Große Krankheitsausbrüche haben nach Abklingen der Epidemien in der Vergangenheit oft zu Aufständen geführt, weil sich soziale Spannungen verschärften.
Ein weiterer Effekt, der sich zeigt: In Pandemien werden gesellschaftliche Themen, die vorher breit diskutiert wurden, stark verdrängt. Es geht in der Krise dann erst einmal darum, eben diese zu bewältigen. Ungelöste gesellschaftliche Probleme aus der Zeit davor können dann wieder stärker aufleben – auch befördert durch die zusätzlichen gesellschaftlichen Missstände, die die Pandemie verstärkte.
Fazit und Ausblick
Die letzten Monate haben neben der Pandemie viele weitere Herausforderungen mit sich gebracht – sei es die Lage in Afghanistan, die Flutkatastrophe in Deutschland oder Ereignisse wie der furchtbare Mord an dem jungen Studenten und Tankstellenmitarbeiter Alexander W. in Idar-Oberstein. Auch der aktuell laufende Wahlkampf zur Bundestagswahl hat das Potential, gesellschaftliche Spannungen noch einmal zu verschärfen, wie sich an der bewussten Verbreitung von Falschinformationen und rechten Kampagnen aufzeigen lässt. Aus diesem Grund macht es Sinn, sich zu vergegenwärtigen, was wir aus vorherigen Pandemien wissen: Gesellschaften sind nach einer so großen Krise fragil, die soziale Ungleichheit nimmt häufig zu und es kommt zu einem „Stau“ an anderen dringenden Herausforderungen, die durch die Krise in den Hintergrund geraten sind. Die zitierten Forschungsergebnisse sind dabei nicht als sichere Prognose zu verstehen, welche Herausforderungen genau in den nächsten Jahren auf unsere Gesellschaft zukommen. Zu viele Faktoren spielen hier eine Rolle, die heute nur schwer vorherzusagen sind. Dennoch zeigen sie: Die Pandemie kann wie ein Verstärker für gesellschaftliche Probleme wirken.
In Zeiten großer Unsicherheit und vielfacher Herausforderungen ist es daher wichtig, gemeinsam, sachlich und schnell an Lösungen zu arbeiten. Rechtspopulistische und verschwörungsideologische Akteure haben daran kein Interesse. Sie versuchen durch Desinformation und Hetze eine weitere Spaltung voranzutreiben, denn das ist der beste Nährboden für ihre Ideologien. Deswegen ist es wichtig, dass sich eine post-pandemische Gesellschaft diesen entschieden entgegenstellt und gesellschaftliche Spannungen sorgsam beobachtet, um Fundamentalisierungstendenzen rechtzeitig etwas entgegenzusetzen.