Jahrestag des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine: Glaube an Propaganda- und Verschwörungserzählungen
22. Februar 2024
Am 24. Februar 2022 überfiel Russland die Ukraine. Der Überfall Russlands führte nicht nur zu erheblichem Leid für die Ukraine und ihre Bevölkerung, sondern läutete auch in Deutschland eine sicherheits- und außenpolitische Zeitenwende ein. Die russischen Aggressionen brachten auch umfangreiche digitale Desinformationskampagnen in den sozialen Medien mit sich. Das Ziel: Westliche Demokratien sollen insgesamt geschwächt werden.
Eine von der Europäischen Union 2023 veröffentlichte Studie kam zu dem Schluss, dass die anhaltende Desinformationskampagne des Kremls nicht nur ein fester Bestandteil der russischen Militäragenda sei, sondern auch Risiken für die öffentliche Sicherheit, die Grundrechte und die Wahlprozesse in der Europäischen Union mit sich bringen würde. Seitdem gibt es verschiedene staatliche, wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Initiativen, um der Problematik Desinformation stärker zu begegnen. Insbesondere bei längerfristigen Krisenlagen und tiefgreifenden Konflikten sind Befragungen eine wichtige Säule, um ein Verständnis über die gesellschaftliche Stimmungslage und die Verbreitung von Propaganda zu erlangen. Durch diesen evidenzbasierten Ansatz erlangt man auch ein tieferes Wissen über die Verbreitung in gesellschaftlichen Subgruppen. CeMAS führt daher regelmäßig Erhebungen durch, die aufzeigen, wie sehr verschwörungsideologische und propagandistische Narrative und Mythen in der Gesellschaft verfangen.
Prorussische Verschwörungserzählungen und Propagandanarrative
Prorussische Verschwörungserzählungen fungieren oft nach dem Muster, dass behauptet wird, dass der russische Präsident Putin gegen eine globale Elite vorgehen würde. Der verschwörungsideologische Sender AUF1 behauptete beispielsweise in einem Telegram-Post vom 27. Februar 2022 mit über dreihunderttausend Views, dass „die Ukraine-Krise […] genau in den Plan der Globalisten“ einer angeblichen neuen Weltordnung passen würde.
Dieses Muster zeigt sich auch in den CeMAS-Daten. Der Aussage, Putin würde gegen eine globale Elite vorgehen, die im Hintergrund die Fäden zieht, stimmten 12 % im April 2022 und bis zu 19 % im Dezember 2022 zu. Im Dezember 2023 befürworteten 18 % diese verschwörungsideologische Interpretation der Motive Putins. Diese Aussagen sind nicht nur anschlussfähig an antisemitische Tropen, sondern auch Teil der Dämonisierung des Westens. Russland inszeniert sich als angeblicher Verteidiger traditioneller Werte gegen eine vermeintlich satanische Elite.
Die NATO als angeblicher Kriegsgrund
Integraler Bestandteil russischer Propaganda ist auch die Hetze gegen den „kollektiven Westen“. Noch im Februar 2024 sagte der Kremlsprecher Dmitri Peskow, dass die angebliche „Spezialoperation“ die „Form eines Krieges gegen den kollektiven Westen“ angenommen hätte. Auch die falsche Behauptung, dass die NATO der eigentliche Aggressor sei, gegen den sich Russland nur behaupten müsse, wurde in der Vergangenheit wiederholt behauptet. Die Verbreitung dieser Narrative ist sowohl auf den Kreml selbst, aber auch auf prorussische Akteur:innen zurückzuführen und sie finden in der deutschen Gesellschaft durchaus Zustimmung.
Unsere Daten zeigen, dass während im April 2022 12 % der Menschen diesen Aussagen zustimmten, sich die Zustimmung im Oktober 2022 auf 19 % erhöhte und auf diesem Niveau stabilisierte.
Russland beruft sich auf eine angebliche Entnazifizierung von der Ukraine
Russland und der russische Präsident Putin bauen das Bild einer angeblich faschistischen Ukraine seit Jahren auf. Putin rechtfertigte die Invasion in die Ukraine damit, „eine Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine zu erreichen.“ Die Internetplattform dekoder hat mehr als drei Millionen Artikel der staatlichen Nachrichtenagentur Russlands RIA Nowosti analysiert und daraus die Muster der Propaganda analysiert. Sie konnte aufzeigen, dass insbesondere Narrative einer angeblich notwendigen „Denazifizierung“ tausendfach über RIA Nowosti verbreitet werden. Von dort finden sie auch ihren Weg nach Deutschland über prorussische Akteur:innen und Formate.
Unsere Erhebung zeigt, dass solche Aussagen von einem kleinen Teil auch geglaubt werden. Im April 2022 stimmten 5 % der Aussage zu, dass der Krieg notwendig gewesen sei, um die angeblich faschistische ukrainische Regierung zu beseitigen. Die Zustimmung stieg im Oktober 2022 auf 9 % an und schwankte dann zwischen 7 % und 10 %.
Geschichtsrevisionismus als Propagandainstrument
Geschichtsrevisionistische Äußerungen über die Eigenständigkeit der Ukraine gehören ebenfalls zum Instrumentenkasten russischer Propaganda. So behauptete der Präsident der Russischen Föderation beispielsweise in seiner Rede am 21. Februar 2022, wenige Tage vor der Invasion, dass die „moderne Ukraine vollständig von Russland geschaffen“ wurde. Diese und ähnliche Aussagen wurden von ihm mehrfach wiederholt, um die russische Aggression zu rechtfertigen. Unsere Erhebungen zeigen auch hier ein vergleichbares Muster wie bei den anderen Aussagen: Im April 2022 stimmten der falschen Idee, dass die Ukraine historisch keinen Gebietsanspruch habe und eigentlich Teil Russlands sei, 8 % der Befragten zu, im Oktober 2022 waren es dann 14 %, die der russischen Propaganda folgten. In den kommenden Monaten lag die Zustimmung stabil zwischen 14 % und 15 %.
Verschwörungserzählungen zu angeblichen Biowaffen
Das Thema vermeintlicher Biowaffen aus geheimen Laboren wird häufig im Kontext von Desinformation und Propaganda verwendet. Während der Coronapandemie behaupteten beispielweise russische und chinesische Medien, SARS-COV-2 wäre in US-Laboren entwickelt worden. Seit Jahren gibt es auch immer wieder Gerüchte über angebliche Biolabore der USA in Osteuropa. „Die Verschwörungstheorie über angebliche US-Biolabore in an Russland angrenzenden Ländern […] ist Teil einer jahrelangen Desinformationskampagne des Kremls“, schreibt dazu die East StratCom Task Force im Rahmen des Projekts „EUvsDisinfo“ des Europäischen Auswärtigen Dienstes. Ziel ist es u.a., die Invasion der Ukraine mit einer vermeintlichen Bedrohung zu legitimieren.
Während im April 2022 insgesamt 7 % der Aussage zustimmten, dass die Ukraine zusammen mit den USA geheime Biolabore zur Herstellung von Biowaffen betreiben würde, stieg die Zustimmung ab Oktober 2022 auf 12 % an und verharrte dann auf diesem Niveau.
Die Rezeption des russischen Angriffskriegs im deutschsprachigen verschwörungsideologischen Milieu
Teile des verschwörungsideologischen Milieus verbreiteten direkt nach Kriegsbeginn, dass der russische Angriffskrieg auf die Ukraine eigentlich ein Ablenkungsmanöver sei, dass von den „Herrschende“ gezielt zur Bevölkerungsmanipulation genutzt werden würde. Personen wie Eva Herman, aber auch Bodo Schiffmann und die Freien Sachsen behaupten 2022, dass der Krieg von einer geplanten „Zwangsimpfung“ ablenken solle.
Solche Aussagen treffen in Teilen der Bevölkerung auf offene Zustimmung. Während im April noch 4 % der Aussage zustimmten, dass der Krieg in der Ukraine nur als vermeintliche Ablenkung von der Coronapandemie dienen würde, verdoppelte sich die Zustimmung im Oktober 2022 auf 8 %. Seitdem variieren die Zustimmungswerte zwischen 5 % und 9 %. Im Dezember 2023 lag die Zustimmung dann bei 6 %. Dies kann auch damit zu tun haben, dass die Coronapandemie langsam in den Hintergrund rückt.
Desinformation und Propaganda als Herausforderungen für Demokratien
Gerade mit Blick auch auf zukünftige Krisen ist ein systematischer Ansatz zur Bekämpfung von Desinformation zentral. Katastrophen, Krisen und Kriege werden mit einer Zunahme an Falschinformationen, Desinformationen und Verschwörungserzählungen einhergehen. Desinformation ist dabei kein Problem der Neuzeit, aber eine fundamentale Herausforderung für liberale Demokratien, die auch durch die Verbreitungsmöglichkeiten im digitalen Raum eine ernstzunehmende Bedrohung darstellt. Unsere Daten zeigen, dass die Zustimmung zu russischer Propaganda zwischen April 2022 und Oktober 2022 signifikant anstieg. In den kommenden Monaten stabilisierte sich das Niveau von Oktober 2022 bei quasi allen Aussagen. Solche Haltungen untergraben die Unterstützung für die Ukraine und machen es schwieriger, die Gefahren durch ein autoritäres Russland klar zu benennen.
Da Desinformation und Verschwörungserzählungen das Management von Krisen und Konflikten erschweren, braucht die Gesellschaft einen systematischen Ansatz, um Desinformation zu bekämpfen, um schädlicher Einflussnahme entgegenwirken zu können. Insgesamt zeigt sich, dass Desinformation eine langfristige Bedrohung für liberale Demokratien darstellt. Nicht erst seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine wird Desinformation gezielt als Propagandamittel genutzt, um westliche Demokratien zu destabilisieren und die Solidarität mit der Ukraine zu untergraben. Auch im Kontext des Nahostkriegs zeigt sich eine enorme Propagandaflut.
Es ist daher eine tiefergreifende gesellschaftspolitische Debatte zu der Frage, wie der zunehmenden Flut an Desinformationskampagnen begegnet werden kann, erforderlich. Während Krisen akute Stressoren darstellen, die die Resilienz von Gesellschaften und Individuen herausfordern und empfänglicher machen für Stimmungsmache und Beeinflussungsversuche, muss Desinformation als chronischer Stressfaktor verstanden werden, der liberale Demokratien im Mark erschüttern soll. Gerade in Anbetracht der Fragilität der Welt, den zunehmenden Krisen und Konflikten können es sich Demokratien nicht leisten, das Problem zu unterschätzen.
Methodik: Das Konzept der Befragung
In diesem Projekt wurde eine repräsentative Stichprobe der deutschen Bevölkerung zu ihren Einstellungen und Verhaltensweisen befragt. Der Fokus der Befragung lag auf Verschwörungserzählungen rund um den Krieg in der Ukraine. Die Befragung erfolgte mittels eines standardisierten Fragebogens, der neben soziodemografischen Angaben zu Geschlecht, Alter, Schulbildung, Einkommen, politischer Einstellung und Angaben zum Impfstatus auch Messinstrumente zur Erfassung politischer und weltanschaulicher Einstellungen, der Verbreitung von Verschwörungserzählungen und des Protestgeschehens enthielt.
Die Erhebung ist als serielle Querschnitts-Online-Erhebung konzipiert, an der seit April 2022 regelmäßig ca. 2.000 Personen in den Datenerhebungen teilnehmen. Proband:innen werden über den Panelanbieter Bilendi & respondi eingeladen und bezahlt. Regelmäßig wird eine repräsentative Verteilung der Befragten nach Alter × Geschlecht sowie Bundesland auf Basis der Zensusdaten aus Deutschland angestrebt. Bei einem Konfidenzniveau von 95 % liegt die Fehlerspanne jeweils bei ± 2 %. Die Aussagen wurden in der Studie auf einer fünf-stufigen Skala abgefragt und für die Präsentation zusammengefasst.
Feldzeiten Datenerhebung:
April: 01.-12.2022, N = 2.031
Oktober: 03.-11.10.22, N = 2.228
November: 02.-21.11.22, N = 2.006
Dezember: 02.-15.12.22, N = 2.014
Januar: 16.-29.01.23, N = 2.016
Februar: 06.-10-02.23, N = 2.028
Dezember: 29.11-13.12.2023, N = 2.093