Rechtsextreme Mobilisierung gegen Geflüchtete auf Telegram
16. März 2023
Im Spätsommer 2022 war in Deutschland die Sorge groß, dass Rechtsextreme angesichts des Ukraine-Kriegs und einer drohenden wirtschaftlichen Rezession neue Mobilisierungserfolge erzielen könnten. Zwar haben sie es bisher nicht geschafft, die breite Bevölkerung für ihre Zwecke zu aktivieren, doch kommt es lokal wieder vermehrt zu Protesten gegen Geflüchtetenunterkünfte. Diese werden begleitet von gezielten Mobilisierungsversuchen auf Telegram.
Als die Mobilisierung zum politischen Umgang mit der Covid-19 Pandemie im Laufe des letzten Jahres nachließ, hofften Rechtsextreme erst auf den sogenannten „heißen Herbst“, später auf einen „Wutwinter“. Zu Massenprotesten und großen Querfronten kam es jedoch nicht, weder zu den Themen steigende Energiepreise und Inflation noch zu dem Umgang der deutschen Regierung mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Das eine Mobilisierungsthema hat das Milieu rechtsextremer Online-Aktivist:innen zurzeit nicht. Doch es gibt ein Kernthema, das die rechtsextreme Szene aktuell wieder stark bedient: Hetze gegen Asylsuchende und Migrant:innen.
Erinnerungen an 2015/2016
Während der Zunahme von Geflüchteten nach Deutschland in den Jahren 2015/2016 kam es zu unzähligen Angriffen auf Asylsuchende und Geflüchtetenunterkünfte. Allein 2015 verfünffachten sich die Angriffe auf Unterkünfte im Vergleich zum Vorjahr und stiegen auf über 1.000 Angriffe deutschlandweit. Nun besteht die Sorge, dass sich diese Zustände im Jahr 2023 wiederholen können.
Eine repräsentative Studie mit Daten von 2016/2017 ergab, dass etwa 14-19 Prozent der deutschen Bevölkerung geflüchtetenfeindliche Straftaten befürworten – und dieser Zuspruch ziehe sich durch alle Gesellschaftsschichten. Außerdem seien die Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte nach Angaben des Bundesinnenministeriums von 70 im Jahr 2021 auf 121 im Jahr 2022 angestiegen. Dies ist das erste Mal, dass Angriffe – zu denen Schmierereien, Sachbeschädigung und auch Brandanschläge gehören – seit 2015 wieder zunehmen.
Rechtsextreme Mobilisierung auf Telegram
War Facebook im Jahr 2015 noch eines der wichtigsten sozialen Medien für die Mobilisierung gegen Geflüchtete in Deutschland, nutzen viele rechtsextreme Gruppierungen inzwischen den Messengerdienst Telegram. Einer der großen Vorteile von Telegram für Rechtsextreme ist die kaum vorhandene Moderation von Inhalten auf der Plattform. Somit können rechtsextreme Inhalte freier veröffentlicht werden, ohne dass die jeweiligen Kanäle und Gruppen – anders als in vielen anderen großen Sozialen Medien – gelöscht werden.
Über ihre Telegramkanäle rufen Rechtsextreme zurzeit zu Protesten auf und bewerben lokale Demonstrationen gegen Geflüchtete. Rechtsextreme setzen hierbei nicht auf die eine große, bundesweite Demo, sondern fördern viele kleine Proteste, die sich an die lokale Bevölkerung richten.
Auch wenn genaue Daten dazu fehlen, wie viele der Demonstrant:innen durch Beiträge in rechtsextremen Telegramkanälen zur Teilnahme an Demonstrationen angeregt wurden, ist es dennoch wichtig, die Relevanz der Mobilisierung über Telegram zu beleuchten. Beiträge, die sich gegen Geflüchtete richten, erreichen dort teilweise zehntausende Views und in den letzten drei Jahren haben viele Protestmobilisierer:innen Telegram für ihre Zwecke entdeckt.
Fokus auf lokale Proteste
In Bayern hetzte die rechtsextreme Kleinstpartei Der Dritte Weg gegen eine Unterkunft in Oberfranken. Laut Verfassungsschutz gelang es Rechtsextremen dort teilweise, das bürgerliche Milieu an die eigenen Proteste anzubinden. Manche dieser Proteste gegen die Unterbringung von Geflüchteten enden in Ausschreitungen: Ende Januar kam es laut dem Bayerischen Rundfunk in Zapfendorf zu „tumultartigen Szenen“ bei einer Gemeinderatsitzung. Sowohl der Telegramkanal Der Dritte Weg als auch der Telegramkanal einer rechtsextremen Gruppierung namens Kollektiv Zukunft schaffen Heimat schützen (KZSHS) hatten im Vorfeld für die Proteste geworben. Die Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus beschreibt KZSHS als eine rechtsextreme Gruppierung aus Nordbayern „mit einer ideologischen Nähe zum Neonazismus“, die seit 2021 bestehe.
Wenn es um Protestmobilisierung auf Telegram geht, ist die rechtsextreme Kleinstpartei Freie Sachsen besonders aktiv. Ihr Fokus liegt dabei auf der Bewerbung lokaler Demonstrationen und Kundgebungen in Sachsen, weshalb sich besonders viele Mobilisierungsbeiträge für diese Region auf Telegram finden.
In Chemnitz-Einsiedel demonstrieren Menschen jeden Mittwoch seit Herbst 2022 gegen eine Erstaufnahmeeinrichtung. Die Tageszeitung Taz berichtet, dass auf die Einrichtung bereits 2015 ein Brandanschlag verübt wurde. Für die derzeitigen Proteste gegen die Unterkunft liegt die Zahl der Demonstrierenden laut Polizei „konstant im zweistelligen Bereich“. Seit Anfang Dezember 2022 gibt es auch zu diesen Protesten regelmäßig Aufrufe auf dem Telegramkanal von Freie Sachsen.
Außerdem besteht seit Anfang Januar 2023 ein Telegramkanal namens Keine Einzelfälle in Einsiedel, der auf die rechtsextreme Idee verweist, Geflüchtete würden zwingend Gewalttaten ausüben und Medien würden dies stets als Einzelfälle beschönigen. Wer hinter diesem Kanal steht, ist nicht bekannt, doch teilt der Kanal Posts aus dem Umfeld der rechtsextremen Organisation Identitäre Bewegung und wird oft von Kanälen dieser Organisation geteilt. Seit seiner Gründung mobilisiert der Kanal Keine Einzelfälle in Einsiedel zu den Protesten gegen die Erstaufnahmeeinrichtung. Auch der Kanal Identitäre Bewegung Chemnitz ruft seit Mitte Januar 2023 zur Protestteilnahme auf, ebenso wie der Kanal der rechtsextremen Organisation Ein Prozent. Ein weiterer Kanal namens Aktionsmelder, der ebenfalls aus dem Umfeld der Identitären Bewegung zu kommen scheint und regelmäßig rechtsextremen Aktivismus bewirbt, veröffentlichte Mitte Februar 2023 ebenfalls einen Demonstrationsaufruf für Chemnitz-Einsiedel.
Auch im sächsischen Kriebethal gibt es Proteste gegen die Aufnahme von zehn bis zwölf Kindern und Jugendlichen aus Afghanistan und Syrien zwischen zehn und siebzehn Jahren. Seit Ende Dezember 2022 ruft der Telegramkanal Freie Sachsen Mittelsachsen zu den Protesten auf, seit Anfang Januar auch der Hauptkanal Freie Sachsen. Der Telegramkanal Ein Prozent sprang ebenfalls auf den fahrenden Zug und teilte Mitte Januar einen Protestaufruf nach Kriebethal.
Ähnlich verläuft die Protestmobilisierung auf Telegram für die Stadt Böhlen bei Leipzig. Hier fanden sich Anfang Februar rund 200 Personen zusammen und protestierten gegen eine geplante Geflüchtetenunterkunft. Laut einem Artikel der Leipziger Zeitung hatten sowohl eine private Initiative als auch die Freie Sachsen zum Protest aufgerufen; der Neonazi Michael Brück, der mittlerweile für die Freie Sachsen aktiv ist, hielt einen Redebeitrag. Auf Telegram rief der Kanal Freie Sachsen seit Ende Januar 2023, der Kanal der Lokalgruppe Freie Sachsen Leipzig seit Anfang Februar 2023 zu Protesten in Böhlen auf.
Gefahrenpotential geflüchtetenfeindlicher Hetze
Auch wenn der von Rechtsextremen herbeigesehnte „heiße Herbst“ ausblieb, sich der „Wutwinter“ nicht entladen hat und es bisher noch keine breite Querfront gab, fanden an manchen Tagen dennoch bis zu 1.000 Protestveranstaltungen gleichzeitig statt. Noch steht offen, ob Rechtsextreme das Thema Asyl für ihre Mobilisierung im großen Stil instrumentalisieren können. Der Süddeutschen Zeitung gegenüber sagte Dirk-Martin Christian, Präsident des sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz, Anfang Januar 2023: „Spätestens wenn wieder Turnhallen [durch Geflüchtete] belegt werden oder die deutsche Bevölkerung Einschnitte in ihr eigenes Leben hinnehmen muss, könnte es wieder Protestzulauf geben“. Sollte in Deutschland die Solidarität mit den aufgenommenen Geflüchteten aus der Ukraine nachlassen, könnte dies ebenfalls rechtsextremen Interessen zugutekommen.
Schon jetzt gibt es erste Anzeichen dafür, dass Ausschreitungen und Angriffe gegen Geflüchtetenunterkünfte – wie schon 2015/2016 – wieder zunehmen. Das oben erwähnte Heim in Kriebethal steht mittlerweile unter Bewachung, nachdem gedroht wurde, die geplante Minderjährigenunterkunft „abzufackeln“. Die Grundstimmung habe sich seit 2015 nicht verändert, so der Sächsische Flüchtlingsrat gegenüber der Wochenzeitung Jungle World, wodurch die Sorge entsteht, dass die Demonstrationen an Zuwachs gewinnen könnten. Im bayerischen Marklofen kam es Anfang Februar 2023 innerhalb von zwei Tagen gleich zu zwei Brandanschlägen auf eine noch leerstehende Zeltunterkunft für Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine.
Die Proteste und Angriffe gegen Geflüchtetenunterkünfte und die Online-Mobilisierung auf Telegram deuten darauf hin, dass sich die Lage erneut verschärft. Deshalb müssen sich Politik und Gesellschaft frühzeitig und eindeutig gegen diese Entwicklungen stellen und schon jetzt handeln. Dies erfordert nicht nur einen Blick auf die „Offline”-Proteste, sondern auch, dass die Online-Mobilisierung ernst genommen wird.