Nach dem Terror­anschlag in Moskau: Die Rezeption russischer Propaganda unter deutsch­sprachigen Verschwörungs­ideolog:innen und Rechts­extremen

Am Freitagabend des 22. März 2024 wurden nach aktuellem Stand 139 Menschen durch einen Terroranschlag auf eine Konzerthalle in Moskau getötet, zu dem sich der Islamische Staat Provinz Khorasan (ISPK) bekannte. Begleitet wird die Tat von Desinformation und Verschwörungserzählungen, die in bestehende prorussische Propagandanarrative integriert werden. Eine Bestandsaufnahme der Reaktionen des deutschsprachigen verschwörungsideologischen und rechtsextremen Milieus.

Bereits kurze Zeit nach dem Terroranschlag auf die Moskauer Konzerthalle bekannte sich die Terrororganisation Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISPK) zu der Tat. Die Bekennerschreiben werden von verschiedenen Sicherheitsexperten als echt eingestuft. In Russland hat der Anschlag nicht nur zu Entsetzen und Trauer geführt, auch die Sicherheitslage ist nach wie vor angespannt. Es kam im Nachgang der Tat zu mehreren Evakuierungen in Einkaufszentren und dem Krankenhaus, in dem die Opfer des Anschlags behandelt wurden. Auch außerhalb Russlands sind die Konsequenzen des Anschlags zu spüren. In Deutschland sprach Bundesinnenministerin Faeser von einer akuten Gefahr durch islamistischen Terror, in Frankreich wurde die höchste Terrorwarnstufe ausgerufen.

(Pro-)Russische Schuldzuweisungen gegenüber der Ukraine und „dem Westen“

Die Umdeutung von Terroranschlägen wird vielfach gezielt durch autoritäre Regime und Akteur:innen befeuert. Auch der russische Präsident Wladimir Putin versuchte die Terroranschläge für seine eigenen Zwecke zu nutzen. So sprach er in einer am Samstag ausgestrahlten Rede von einer angeblichen Verwicklung der Ukraine. Die festgenommenen Männer hätten sich laut Putin „in Richtung Ukraine bewegt, wo für sie ein Fenster für einen Grenzübertritt vorbereitet worden war.“ Russland war vor der Terrortat von der US-amerikanischen Regierung über mögliche Terroraktivitäten in naher Zukunft gewarnt worden. In einer Pressemitteilung zum Anschlag bezeichnete das russische Außenministerium die Ukraine allgemein und ohne direkte Bezugnahme zum Vorfall als angebliches Terrorregime, das die russische Zivilbevölkerung angreife. Russia Today-Chefredakteurin Margarita Simonjan bezeichnete die vermutliche Verantwortung des ISPK in ihrem Telegram-Kanal noch am Abend des Angriffs als „fake“. Später deutete auch sie eine Involviertheit der Ukraine sowie eine dahinterstehende Verantwortung des Westens an. Am Montagabend hat Putin die Urheberschaft des ISPK anerkannt, deutet aber weiterhin auf eine Verbindung zur Ukraine hin.

Gegenüber dem deutschsprachigen Publikum schrieben prorussische Telegramkanäle die Verantwortung für den Anschlag ebenfalls überwiegend der Ukraine oder den USA zu. Während der ISPK als verantwortliche Terrororganisation zunächst eher abgelehnt wurde, brachten spätere Beiträge die Organisation mit der Ukraine oder den USA in Verbindung. Ein Meinungstext bei RT Deutsch unterstellte „dem Westen“, Krieg gegen Russland zu führen und aufgrund dessen Stärke nun terroristische Methoden einzusetzen, deren Erfolg aber an der Einigkeit der Russ:innen scheitern würden.

Screenshot eines Artikels bei RT Deutsch mit dem Titel 'Terroranschlag auf die Crocus-Konzerthalle: Zeit, dass der Westen die Rechnung bezahlt'

Erzählungen vom „Westen“ als eigentlicher Kriegsgegner Russlands, die Betonung der eigenen Stärke und Unbesiegbarkeit sowie der geschlossen hinter Putin stehenden russischen Bevölkerung stellen wiederkehrende prorussische Propagandanarrative dar.

Reaktionen des verschwörungsideologischen Milieus

Innerhalb des deutschsprachigen, verschwörungsideologischen Milieus verbreiten Akteur:innen verschiedene Narrative, die die russische Propaganda aufgreifen und erweitern. Der reichweitenstärkste deutschsprachige verschwörungsideologische und völkische Telegram-Kanal des „alternativen“ Mediums AUF1 verbreitete mit Bezug auf die Warnung aus den USA vor Anschlägen in Russland die Auffassung, Kommentatoren aus den USA hielten die Anschläge für eine Inszenierung der USA oder der NATO. Auf Eva Hermans Telegram-Kanal wurden ab Sonntag Spekulationen über eine ukrainische Beteiligung an der Tat von anderen Online-Quellen geteilt. So verwies ein Beitrag etwa darauf, dass islamistische Kampfgruppen bereits seit 2014 und 2016 für die Ukraine kämpfen würden. Diese umfassten tschetschenische Gruppen und Freiwilligenverbände, deren islamistische Mitglieder bereits im Syrienkrieg gekämpft hätten. Dort hätte sie dem Umgang mit westlichen Waffen gelernt und könnten damit Terroranschläge verüben. Auch nach Putins Veröffentlichung von Montagabend verbreitete Hermans Kanal weiterhin das Narrativ von der Macht hinter dem ISPK.

Screenshot aus Telegram: 'AUF1' bewirbt einen Artikel mit dem Titel 'Terroranschlag in Moskau: USA warnen seit 7. März!' Screenshot aus Telegram: 'Eva Herman Offiziell' teilt Spekulationen aus einer Online-Quelle mit dem Titel »Terroranschlag auf Crocus: Warum eine 'ukrainische Spur' denkbar wäre«

Das aus dem QAnon-Milieu stammende „alternative“ Medium LION Media TV hat ein Video produziert, um die Ereignisse um den Anschlag in den eigenen verschwörungsideologischen Kanon zu integrieren. Darin greift das Medium den Verdacht gegen den Westen auf, der als eigentlicher Drahtzieher operiert habe und integriert diese Erzählung in das QAnon-Universum: Barack Obama und Hillary Clinton hätten insgeheim den IS aufgebaut und mit Waffen beliefert, um aus finanziellen Gründen zunächst Assad in Syrien zu bekämpfen. Joe Biden setze nun die Instrumentalisierung des ISPK fort. Der durch den Westen gesteuerte Anschlag in Moskau sei jedoch als „Verzweiflungstat“ zu werten, da die Ukraine den russischen Angriffskrieg auf das eigene Territorium aufgrund der abnehmenden Unterstützung durch den Westen in Kürze verlieren würde. Putin solle auf diese Weise provoziert werden, „den nächsten Schritt“ innerhalb des Konflikts auszuführen. Dieser warte jedoch auf die Wahl Trumps, der den Krieg mit einem Friedensvertrag beenden würde, in dem Russland Gebiete der Ukraine zugeschlagen werden würden. Der Beitrag mit dem Video von Sonntagspätnachmittag wurde bisher über 145.000-mal angesehen (Stand 26.03.2024).

Screenshot aus Telegram: 'LION Media TV' teilt ein Video mit dem Titel 'Terror in Moskau: Steckt Joe Biden hinter dem Anschlag?'

Unter den reichweitenstärksten Kanälen auf Telegram weicht bisher nur Boris Reitschuster vom False Flag-Verschwörungnarrativ ab. Dies ist jedoch auf Grund seiner Putin-kritischen Position wenig überraschend.

Reaktionen aus dem rechtsextremen Milieu

Auch aus dem rechtsextremen Milieu greifen Akteur:innen die Erzählungen auf, dass nicht der ISPK für den Angriff verantwortlich sei, sondern dass die USA oder die Ukraine dahinterstecken würden. In einem Telegrampost schrieb etwa der rechtsextreme Aktivist Martin Sellner, der ISPK habe sich zwar zum Moskauer Anschlag bekannt, „aber das Vorgehen der Täter wirkt atypisch“ und es sei möglich, dass sie lediglich „von den Geld/Auftraggebern“ aktiviert wurden. Die rechtsextreme Kleinpartei „Freie Sachsen“ geht noch einen Schritt weiter und bezeichnete den Islamischen Staat als eine „von den USA aufgebauten Terrorgruppe“ und nannte es „auffällig“, dass die USA vor Wochen vor einem Anschlag in Russland gewarnt hatten.

Screenshot aus Telegram: 'Martin Sellner [TELEGRAMELITE]' teilt einen Beitrag unter den Titeln 'Nachrichtenkrieg zu Moskauterror: IS-Terror oder westlicher Auftrag?' und 'Mokau-Terror: was wir (nicht) wissen'

Rechtsextreme Wortführende nutzten den Anschlag außerdem, um gegen Migration und insbesondere gegen Muslim:innen zu hetzen. Martin Sellner schrieb auf Telegram, der Anschlag zeige, dass „Ersetzungsmigration“ verantwortlich für Probleme – „ob hier oder in Russland“ – sei. Das rechtsextreme Compact Magazin verwies auf das Moskauer Attentat und unterstellt im Anschluss eine allgemeine Verbindung zwischen Muslim*innen und Gewaltbereitschaft. Ähnliche Aussagen wurden auch von Politiker:innen der AfD verbreitet. Laut eines Telegramposts von Jörg Urban, Fraktionsvorsitzender der AfD im sächsischen Landtag, zeige der Anschlag die Gefahr, die von der „Politik der offenen Grenzen“ ausgehe .

Screenshot aus Telegram: 'Jörg Urban - Sachsen' mit einem Post zu dem Terroranschlag in Moskau

Fazit

Direkt nach Terroranschlägen werden vorhandene Informationsleerstellen vielfach mit Spekulationen und Verschwörungserzählungen gefüllt. Studien haben gezeigt, dass Menschen dazu tendieren, bei großen Ereignissen auch große Ursachen zu vermuten. Bei solchen schrecklichen Ereignissen geht man dann schneller von einer vermeintlichen Verschwörung aus. Auch ein durch den Terroranschlag erlebter Kontrollverlust kann zusätzlich dazu führen, dass Menschen die Welt eher als von Verschwörungen gesteuert interpretieren. Daneben zeigen aktuelle Erhebungen auch, dass der Wunsch nach Zerstörung und Chaos damit einhergeht, dass Menschen Gerüchte oder Verschwörungserzählungen verbreiten.

Terroranschläge haben nicht nur dort eine Wirkung, wo sie passieren, sondern verunsichern und polarisieren Gesellschaften weit darüber hinaus. Die Taten werden regelmäßig im Lichte der eigenen Ideologie bewertetet. Laut einer britischen Erhebung aus dem Jahr 2022 gab jede:r Siebte (14 %) an, dass an dem Bombenanschlag 2017 in der Manchester Arena, bei dem 23 Menschen starben, angeblich „Krisendarsteller“ beteiligt waren und es in Wirklichkeit keine Verletzten oder Toten gegeben habe. Die Leugnung von Terror hing laut dieser Umfrage signifikant mit der Nutzung von Social Media zusammen. So lag der Anteil bei denjenigen, die sagten, dass sie sich über Nachrichten und Ereignisse viel bei der Messaging-App Telegram informieren, bei insgesamt 44 %.

Ähnliche Dynamiken finden sich auch nach den Terroranschlägen in Moskau. Sowohl von pro-russischen Akteur:innen als auch von Rechtsextremen und Verschwörungsideolog:innen werden die Terroranschläge aufgegriffen und vielfach als vermeintliche Verschwörung umgedeutet. Prorussische Akteur:innen scheinen bemüht, die Verantwortung für den Anschlag dem bereits lange als Feind markierten Nachbarland und Kriegsgegner Ukraine sowie dem kollektiven Westen zuzuschreiben und damit bestehende prorussische Narrative zu stärken. Diese Kommunikationsimpulse treffen auf eine zusätzliche Herausforderung, die typischerweise nach dramatischen Ereignissen auftritt. Während das Informationsbedürfnis der Bevölkerung schnell gestillt werden will, brauchen belastbare Erkenntnisse Zeit. In dieser entstehenden zeitlichen Informationslücke können sich Falsch- und Desinformationen besonders gut verbreiten, Menschen in die Irre führen und zur Gefahr werden. Nach dem Anschlag in Moskau kursierten etwa Bilder vermeintlicher Verdächtiger, die sich später als falsch herausstellten.

Das Gefahrenpotential geht dabei über die reine Vermittlung irreführender Information hinaus. Individuen und gesellschaftliche Gruppen können als Feindbild markiert und einer höheren Wahrscheinlichkeit von Übergriffen ausgesetzt werden, das Vertrauen in Qualitätsmedien und demokratische Institutionen wird beeinträchtigt und Misstrauen untereinander gefördert. Der aktuelle Vorfall verdeutlicht, wie dramatische Ereignisse von verschiedenen Akteur:innen und Milieus genutzt werden, um problematische Inhalte zu verbreiten.

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