Vor den Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern

Autor:innen: Prof. Dr. Matthias Quent

Insgesamt etwa sieben Millionen Wahlberechtigte sind am 1. September 2024 in Thüringen und Sachsen und drei Wochen später, am 22. September, in Brandenburg dazu aufgerufen, die jeweiligen Landtage neu zu wählen. Zum Vergleich: Bei der vergangenen Landtagswahl in Bayern waren mehr als neun Millionen Menschen wahlberechtigt, im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen leben knapp 13 Millionen Menschen – mehr als in allen ostdeutschen Bundesländern zusammen. Trotz dieser Mehrheitsverhältnisse könnten die Landtagswahlen im Herbst die politische Landschaft grundsätzlich verändern. Sie gelten als besonderer Stimmungstest vor den Bundestagswahlen 2025 und für die Frage, ob die liberale Demokratie in Deutschland resilient genug für die populistischen und rechtsextremistischen Gefährdungen ist. Neben dem weiteren Erstarken der rechtsextremen AfD mischt vor allem die kürzlich gegründete Partei um Sahra Wagenknecht die Karten neu.

Demobilisierung von AfD-Sympathisant:innen

In Wahlprognosen erreichte die AfD in den vergangenen Monaten in einigen der im Herbst wählenden Länder Ergebnisse von deutlich über 30 Prozent; in allen drei Ländern ist die AfD den Prognosen folgend stärkste Partei. Gleichzeitig ist gerade in den Ostverbänden sichtbar, wie weit die AfD im Rechtsextremismus angekommen ist. Obwohl die Rechtsaußenpartei bei den Europawahlen die Höchstwerte vorheriger Prognosen nicht erreichen konnte, war das Abschneiden der Partei für viele ein Schock. Zivilgesellschaftliche Proteste in Folge der Correctiv-Recherchen, politische Skandale um die Spitzenkandidaten Krah und Bystron für die Europawahlen und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) als populistische, aber demokratische Alternative zur Alternative, wurden als Gründe dafür diskutiert, dass die AfD trotz Gewinn ihr Potential nicht voll mobilisieren konnte: Eine Studie von pollytix hat untersucht, was Wähler:innen der AfD umtreibt, die im Januar 2024 noch angaben, die AfD zu wählen, dies aber vier Monate später nicht mehr beabsichtigten: Jeweils 48 Prozent der ehemaligen AfD-Wähler:innen hielten die Skandale um Maximilian Krah sowie BSW als demokratische Alternative zur AfD für überzeugend genug, um der AfD nicht ihre Stimme zu geben. Eine kleinere Gruppe von 35 Prozent fand überzeugend, dass sich die CDU den Themen der AfD annimmt, ohne rechtsextrem zu sein. Ehemalige AfD-Wähler:innen wechselten demnach bei der EU-Wahl vor allem zur CDU/CSU und zum BSW. Unter denjenigen, die bei den Europawahlen für die AfD stimmten, sagten 82 Prozent in einer Nachwahlbefragung von infratest dimap, es sei ihnen egal, dass die Partei in Teilen als rechtsextrem gelte, solange sie die richtigen Themen anspricht. Zugleich immunisiert sich der harte Kern der AfD-Wählenden vor Kritik: 93% stimmen in der pollytix-Studie der Aussage zu, die Kritik an der AfD sei eine „Hetzkampagne von Politik und Medien, um der AfD zu schaden“.

Bundesweit zeigten die Wahlen teils einen uneinheitlichen Trend: Im Vergleich zu den vergangenen Landtagswahlen 2023 hat die AfD in Bayern und Hessen bei den Europawahlen nun sogar schlechter abgeschnitten. In manchen westdeutschen Regionen haben die Rechtsextremen dagegen deutlich zugelegt. In den ostdeutschen Bundesländern hat die Rechtsaußenpartei bei den Wahlen und in jüngeren Prognosen um die fünf Prozentpunkte gewonnen - im vergangenen Winter waren es in Umfragen teils noch fast 10 Prozentpunkte. Gleichzeitig kann im Osten das sehr junge linkskonservativ-populistische BSW zweistellige Erfolge verzeichnen.

Gegen die eigenen Interessen wählen? Den Blick schärfen!

Warnungen vor der Radikalität und den Folgen starker AfD-Ergebnisse in Ostdeutschland verhallen auch deswegen stärker als in Westdeutschland, weil sich manche Kommentator:innen nicht die Mühe machen, genauer auf die Ursachen und die Agitation der Rechtsextremen zu schauen. Verwundert blicken beispielsweise Wirtschaftswissenschaftler:innen und Kommentator:innen in das AfD-Wahlprogramm und stellen fest, dass ausgerechnet die statistisch vergleichsweise noch immer weniger Wohlhabenden, von denen es in Ostdeutschland mehr gibt, unter den Folgen der Wirtschaftspolitik der AfD leiden würden. Sie verkennen dabei, dass das noch immer wirtschaftsliberale Parteiprogramm des Bundesverbands der AfD im Osten praktisch keine Rolle spielt. Auf den Marktplätzen, in Bürgerveranstaltungen und auf sozialen Medien, wo die AfD stärker präsent ist als die demokratischen Parteien, gilt längst das neurechte Konzept des von Björn Höcke vertretenden „solidarischen Patriotismus“ – eine Mischung aus Nationalsozialismus und Sozialpopulismus ohne realistische Berechnungsgrundlagen. AfD wählen ist für einen Großteil der Wählerschaft längst der Kampf ums Ganze – die einzig mögliche Rettung vor dem Untergang Deutschlands, wie die Partei immer wieder emotionalisierend erklärt. Im großen Kampf um die Verteidigung deutscher, patriarchaler und weißer Privilegien im Allgemeinen und der trotzigen Selbstbehauptung der Besonderheiten des Ostens wird die Klassenfrage der Imagination des Kollektivistischen untergeordnet. Ohnehin muss davon ausgegangen werden, dass der rational-choice-Erklärungsansatz beim populistisch auftretenden Rechtsextremismus an seine Grenzen gerät. Affektive Polarisierungen insbesondere in Konflikt mit dem (real in Ostdeutschland außerhalb der Großstädte kaum vorhandenen) kosmopolitisch-grünen Milieu rufen immer wieder eine Wahrnehmung und Selbstverortung als die ewig Belogenen, Vergessenen und Bevormundeten hervor.

Einhegung des Rechtsrucks

Es ist die Mischung aus demokratischer Mobilisierung gegen den Rechtsextremismus der AfD einerseits und die innerparteilichen Skandale andererseits, die die Zuwächse der Partei zuletzt zumindest etwas eingehegt haben, während ein umfassender Rechtsruck in Wahlergebnissen, Einstellungsstudien und im öffentlichen Diskurs unübersehbar ist. Symbolisch für die Unterschiede der Stabilität liberaldemokratischer Hegemonie zwischen Ost- und Westdeutschland steht das Ausmaß zivilgesellschaftlicher Proteste gegen Rechtsextremismus: Gegen den Europaparteitag der AfD 2023 in Magdeburg demonstrierten knapp 3.000 Menschen. Ende Juni 2024 kamen in Essen, im urbanen Ballungsgebiet Nordrhein-Westfalens, über 70.000 Demonstrierende gegen den Bundesparteitag der Rechtsaußenpartei zusammen. Zuvor hat die Stadt Essen versucht, die AfD loszuwerden. Auch die CDU mobilisierte zu den Protesten. Die Breite und die Stärke zivilgesellschaftlicher Resilienz und Widerständigkeit gegen die äußerste Rechte insbesondere in den urbanen Zentren Westdeutschlands ist in Verknüpfung mit durchschnittlich höherem Wohlstand, der sich u.a. in der Präsenz von Stiftungen und anderem öffentlichen Engagement für die Hegemonie demokratischer Kultur ausdrückt, ein entscheidender Faktor dafür, dass die äußerste Rechte in Westdeutschland (noch?) nicht den Normalisierungsgrad anderer europäischer Länder wie Frankreich oder Italien oder Ostdeutschlands erreicht hat. In dieser Situation kommt der Zivilgesellschaft in Westdeutschland die doppelte Verantwortung zu, einerseits nicht in den naiven Glauben zu verfallen, für immer immun gegen einen umfassenden Rechtsruck zu sein und andererseits die vergleichsweise hohe Stabilität zu nutzen, um nachhaltige demokratische Zukunftsmodelle sozial-ökologischer Transformationen umzusetzen, ohne sich in einer selbstgerechten Status Quo Falle zu verfangen, so lange die politische Instabilität durch die Stärke populistischer und rechtsextremer Parteien das System nicht lähmen. Klar muss sein: Ein politisches „Weiter so“ zwischen Kürzungspolitik, Entsolidarisierung, Diskursverschiebung und demokratischer Entfremdung in vielen Bereichen führt auch Westdeutschland noch tiefer in den Rechtsruck.

Faktor BSW: Was passiert im Herbst?

Noch im letzten Winter war die Möglichkeit relevanter Einflussgewinne bis zu einer Regierungsbeteiligung der AfD nach den anstehenden Wahlen in drei ostdeutschen Ländern deutlich wahrscheinlicher als nach den Europawahlen. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Erstens haben die großen Proteste gegen rechts in allen Landesteilen insbesondere der CDU vor Augen geführt, dass Kooperationen mit der AfD zu erheblichen Unruhen führen würden. Zweitens entsteht um Sahra Wagenknecht als charismatische Autorität eine Partei, die teils soziale, teils populistische und illiberale Positionen vertritt, die insbesondere in großen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung zustimmungsfähig sind. Aber als Partei kann das BSW, anders als CDU-Chef Friedrich Merz suggerierte, seriös weder als links- noch als rechtsextrem eingeordnet werden. Koalitionen zwischen BSW und CDU – und falls rechnerisch nötig unter Einbindung der SPD – sind insbesondere in Thüringen und Sachsen derzeit auf Grundlage der Wahlprognosen durchaus wahrscheinlich – mit unübersichtlichen Folgen für demokratische Kultur und den weiteren Umgang mit der rechtsextremen AfD. Entscheidend dafür wird auch die Entwicklung des BSW sein.

Einer anderen aktuellen repräsentativen Studie von pollytix folgend könnte das BSW in Thüringen, wo die als pragmatisch geltende ehemalige Bürgermeisterin von Eisenach, Katja Wolf, den Landesverband führt, im Herbst bis zu 23 Prozent der Stimmen gewinnen und damit hinter der AfD (31 Prozent) zweitstärkste Kraft werden. In anderen Worten: In Thüringen könnte es eine rechnerische Mehrheit gegen die etablierten demokratischen Parteien geben. Mit 43 Prozent ist das Potential jener, die sich vorstellen könnten BSW zu wählen, sogar höher als das Potential der anderen Parteien (gefolgt von AfD und CDU mit je 37 Prozent). In anderen ostdeutschen Ländern geht der Trend in die gleiche Richtung. Natürlich sind Umfragen keine Wahlergebnisse und sollten nicht überbewertet werden. Insbesondere führt ein starker Fokus auf AfD und BSW dazu, dass CDU, Linke, SPD, Grüne und FDP nicht mehr mit ihren Angeboten durchdringen. Dennoch: Was sind die Perspektiven hinter den noch fiktiven Daten – was passiert im Herbst? Ein Szenario:

Gerade auf der Länderebene, wo der programmatische Einfluss von Sahra Wagenknecht mittelfristig trotz der autoritären Parteigründung eher abnehmen könnte, müssen sich Politik, Medien und Zivilgesellschaft kritisch mit dem BSW auseinandersetzen, anstatt die Partei generell auszugrenzen. Dies könnte einer selberfüllenden Prophezeiung folgend die potenzielle Gefahr einer Paria-Querfront aus linkskonservativem Populismus und Rechtsextremismus noch vergrößern. So abschreckend die Vorstellung einer Koalition zwischen BSW und CDU für viele ist, so ist sie für die Demokratie dennoch weniger bedrohlich als Koalitionen von CDU oder BSW mit der völkisch-nationalistischen AfD, deren Ausgrenzung zum Schutz der Demokratie notwendig bleibt. Vor dem Hintergrund dieser Perspektiven sollte es in der aktuellen Phase der Findung und Orientierung der BSW mit großen Erfolgsaussichten in Ostdeutschland darum gehen, sich inhaltlich mit der neuen Partei auseinanderzusetzen (und nicht nur über sie) und unter Berücksichtigung des Faktors BSW nach Strategien zu suchen, um in den neuen (ost)deutschen Zuständen vulnerable Gruppen zu schützen, weiter fortschreitende Faschisierung der Gesellschaft zu verhindern. Eine demokratische Mobilisierung der sozialen Frage ohne antisemitische, sozialdarwinistische und rassistische Untertöne oder stupider Neiddebatten wäre angesichts extremer Ungleichheiten ein Weg aus der Diskurshoheit der extremen Rechten.

Über den Gastautor: Matthias Quent, Dr. phil., ist Professor für Soziologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen u. a. Demokratie, Polarisierung, Radikalisierung, Hass, Rechtsextremismus und Zusammenhalt.

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