Wahlen in Ostdeutschland: Eine wehrhafte Demokratie von unten

Autor:innen: Dr. Johannes Hillje

2024 wird ein entscheidendes Jahr für die liberale Demokratie. Neben Europawahlen stehen Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen an. In allen drei Ländern geht die AfD als Umfrageführerin in das Wahljahr. Die demokratische Gesellschaft braucht Gegenstrategien, für die es je nach Wahl aber unterschiedliche Ansätze braucht.

Immer öfter wird die Frage gestellt, ob gegen die AfD rechtliche Instrumente aus dem Arsenal der „Wehrhaften Demokratie“ eingesetzt werden sollten. Darunter fallen etwa ein Verbot der gesamten Partei, ein Verbot einzelner Landesverbände oder der Verwirkung von Grundrechten einzelner Politiker, um beispielsweise Björn Höcke die Wählbarkeit zu entziehen. Unabhängig davon, wie man zu diesem „Verbotsansatz“ steht: Im Superwahljahr 2024 werden diese rechtlichen Mittel ohnehin keine abschließende Anwendung finden, weil Vorbereitung und Umsetzung mehr Zeit bräuchten. Gegen rechtsextreme Wahlerfolge benötigt die wehrhafte Demokratie erst einmal andere Ansätze. Gefordert scheint vor allem eine wehrhafte demokratische Gesellschaft.

Die Ausgangslage der Parteien für die Landtagswahlen im Herbst wird auch durch den Ausgang der Europawahlen im Sommer bestimmt. Aus den pro-europäischen Parteien ist vor Europawahlen häufig folgende These zu hören: Da in Deutschland eine große Mehrheit hinter der europäischen Integration steht, sollte man die AfD als Zerstörer der EU stigmatisieren und einen AfD-Wahlerfolg als maximale Gefahr für die europäische Integration skizzieren, um beim großen pro-europäischen Teil der Wahlbevölkerung eine Art Verteidigungsreflex auszulösen und an die Wahlurne zu treiben. Doch diese Überlegung krankt an analytischer Schärfe: Attackieren die etablierten Parteien im Wahlkampf permanent die AfD, setzen also auf die Polarisierung „Pro-Europäer versus Anti-Europäer“, dann steigt in der Folge die Aufmerksamkeit für beide Pole, dem pro-europäischen und dem AfD-Pol. Das wiederum dürfte Mobilisierungseffekte bei AfD-Wähler:innen auslösen: Angriffe von außen, insbesondere von den gehassten etablierten Parteien, stärken den Zusammenhalt nach innen. Und genau damit würden die anderen Parteien der AfD helfen, ihr größtes Problem bei Europawahlen zu überwinden: Die mangelnde Motivation ihrer Anhängerschaft an Europawahlen überhaupt teilzunehmen, also der Wahl zu einem Parlament, das man ohnehin abschaffen will.

Die Mobilisierungsschwäche der AfD bei Europawahlen

Im Gegensatz zu Bundestagswahlen ist die Beteiligung an Europawahlen traditionell geringer, zuletzt betrug die Differenz 15 Prozentpunkte. Mit Mobilisierungsproblemen haben also fast alle Parteien zu kämpfen. Die krasse Mobilisierungsschwäche der AfD ist allerdings ein unproportionaler Ausreißer: Bei den Europawahlen 2019 verlor die AfD im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 etwa 2,2 Millionen Stimmen an das Nicht-Wählerlager. Wie gesagt, bei diesem Vergleich verlieren fast alle Parteien, aber eben nicht so drastisch wie die AfD. Bei der AfD beziffert sich der Verlust auf fast 40 Prozent der Wähler:innen, die zuvor noch für sie stimmten. Und während sie zum Zeitpunkt der Europawahl in den Umfragen im Bund bei rund 14 Prozent lag, konnte sie als Folge des Mobilisierungsproblems bei der Europawahl gerademal 11 Prozent einfahren. Die Mobilisierungsschwäche der AfD bei Europawahlen ist im Wesen und der Programmatik dieser europafeindlichen Partei angelegt.

Statt also nun die Wahlkampfdebatte der Parteien auf die Frage „für oder gegen Europa“ sollten die pro-europäischen Parteien eher um die besten Konzepte für ein „besseres Europa“ streiten und die AfD rechts liegenlassen. Trotzdem wird es darauf ankommen, dass pro-europäische Wähler:innen in großer Anzahl zur Wahl gehen. Um sie zu mobilisieren, ohne dabei gleichzeitig AfD-Wählende zu mobilisieren, ist die Zivilgesellschaft gefordert. Initiativen wie „Pulse of Europe“, exportorientierte Unternehmen, junge Erasmus- oder Interrail-Nutzer:innen können die Befürworter:innen Europas aktivieren, ohne dabei die AfD im Diskurs aufzuwerten und deren Anhänger:innen zu motivieren.

Im Osten ist die AfD-Wählerschaft mobilisiert

Bei den Landtagswahlen im Osten wird dieser strategische Ansatz hingegen kaum funktionieren. Die AfD-Anhängerschaft wird in höchstem Maße mobilisiert sein, denn für sie geht es um Platz eins. In Thüringen sind Szenarien vorstellbar, in denen Björn Höcke (spätestens) im dritten Wahlgang im Landtag zum Ministerpräsidenten gewählt wird. Relevanter scheint für diese Wahlen ein anderer Ansatz zu sein: Trotz der hohen Umfragewerte der AfD gibt es immer noch eine Mehrheit in der ostdeutschen Wahlbevölkerung, die sich ganz und gar nicht vorstellen kann, für die AfD zu stimmen. Sie gilt es zu mobilisieren.

Nur wie kann das gelingen? Bodo Ramelow, der gute persönliche Zustimmungswerte hat, wird ein mögliches „Horse Race“ mit Höcke vermutlich auf die Wahl zwischen „Demokrat oder Faschist“ verdichten. Das wird zur Mobilisierung der eigenen Anhänger:innen beitragen. Allerdings ist die Demokratieunzufriedenheit und das Misstrauen in die etablierten Parteien im Osten so hoch, dass selbst Ramelow für diese Botschaft eben nicht der glaubwürdigste „Messenger“ für viele Menschen ist. Insbesondere bei den eher politisch Desinteressierten liegt das größte Einflusspotenzial im persönlichen Umfeld – im Bekanntenkreis oder auch im Arbeitsumfeld. Solche Netzwerke gilt es zu erreichen, mit Materialien zu versorgen, die nicht von einer Partei kommen und nicht für eine Partei werben, aber eben für die Stimmgabe für eine der demokratischen Alternativen. In Polen hat sich zuletzt gezeigt, wie die überdurchschnittlich starke Mobilisierung von Frauen eine rechtspopulistische Regierung mit der Kraft einer hohen Wahlbeteiligung aus dem Amt fegen kann. Zentraler Faktor: Die Wahl wurde zur Schicksalswahl für die persönliche Freiheit und Selbstbestimmung der Frau, vor allem über das Thema Abtreibung, gemacht. Es hat funktioniert.

Wirtschaft für Weltoffenheit

Ebenso können Unternehmen und Wirtschaftsverbände in Thüringen und anderswo eine wichtige Rolle spielen. Unter einer AfD-Regierung könnten ihre Exportmärkte wegbrechen, Fachkräfte fernbleiben, staatliche Förderung für die Modernisierung ihrer Produktion oder die Entwicklung grüner Technologien gestrichen werden. Vor kurzem hat die Firma Jenoptik aus Jena die Kampagne #BleibOffen gestartet - ein starker Appell für Weltoffenheit und Toleranz, der unternehmerische Interessen mit demokratischen Werten verbindet. Es wird im kommenden Jahr mehr solcher Initiativen brauchen, auch weil in Thüringen über ein Drittel der Landkreise als sogenannte „Transformationsregionen“ gelten. Das sind Landkreise mit hohem Beschäftigungsanteil in energieintensiven Unternehmen oder der Autoindustrie, also Industriezweige, denen die Dekarbonisierung besonders viel abverlangt. Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) belegt, dass die AfD in Transformationsregionen überdurchschnittlich stark ist – und zwar mit beeindruckender Konstanz: Bei den Bundestagswahlen 2021, im aktuellen bundesweiten Umfragehoch und auch bei den jüngsten Landtagswahlen in Hessen und Bayern. In bayerischen Strukturwandel-Regionen schnitt die AfD durchschnittlich um satte 3,1 Prozentpunkte besser als in ihrem Gesamtergebnis (14,6 Prozent) ab. In Hessen war es immerhin noch ein Plus von durchschnittlich 2,6 Prozentpunkten.

Transformation ist nach Migration zum Mobilisierungsthema für die AfD geworden. Die AfD erreicht Menschen, die unter „Transformationsstress“ stehen. Dabei handelt es sich weniger um arme oder arbeitslose Menschen, sondern eher um jenen Teil der Mittelschicht, der sich angesichts des Strukturwandels einer Abstiegsbedrohung ausgesetzt sieht. Mit multipler Realitätsleugnung entlastet die AfD die Menschen von diesem Veränderungsdruck. Unternehmen aus diesen Regionen werden also in der öffentlichen Debatte gebraucht, um zu erklären, welche Politik und welche Haltung nötig ist, um den ostdeutschen Wirtschaftsstandort zu stärken, Wohlstand und Arbeitsplätze zu sichern.

In Nordhausen hat es funktioniert

Solche Initiativen aus der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und dem persönlichen Bekanntenkreis könnte man als „Wehrhafte Demokratie von unten“ bezeichnen. Die Demokratie wird vom mobilisierten Demos gegen seine inneren Feinde verteidigt. Im Kleinen wurde dieser Ansatz schon bei der Stichwahl um das Landratsamt im thüringischen Nordhausen erprobt: Dort verhinderte nicht ein Allparteien-Bündnis einen AfD-Wahlsieg, sondern ein zivilgesellschaftliches Bündnis aus dem Umfeld der örtlichen KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Es hat funktioniert.

Über den Gastautor: Dr. Johannes Hillje ist Politik- und Kommunikationsberater und Autor mehrerer Bücher mit dem Schwerpunktthema rechtspopulistische Strategien. Hillje promovierte an der Universität Kassel zum Thema „Das ‘Wir’ der AfD – Kommunikation und kollektive Identität im Rechtspopulismus“ und tritt regelmäßig als Experte für politische Kommunikation in den Medien auf.

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