Neuer CeMAS Report

Rechtsterroristische Online-Subkulturen sind auch in Deutschland aktiv

Berlin, 15. September 2022

Der neue Report des Berliner Think-Tanks CeMAS (Center für Monitoring, Analyse und Strategie) gibt einen Einblick in die Entwicklung einer rechtsterroristischen Szene, die in der Rechtsextremismusforschung als „militanter Akzelerationismus“ beschrieben wird und einen Überblick über ihre Gruppierungen, Individuen und Aktivitäten in Deutschland. Nach einer Welle transnationalen Rechtsterrors im Jahr 2019, wurde es mit Beginn der Pandemie erst einmal ruhiger in den Netzwerken militanter Akzelerationist:innen. Bereits seit Sommer 2021 sind jedoch wieder verstärkte digitale Aktivitäten zu beobachten. Mit diesem Jahr nahmen nun auch Anschlagsversuche und Terrorpläne, die dem militanten Akzelerationismus zugeordnet werden können, erneut zu.

Rechtsextremer militanter Akzelerationismus strebt danach, liberale, demokratische und kapitalistisch verfasste Gesellschaften zusammenbrechen zu lassen. Dazu sollen in diesen Gesellschaften vorhandene Widersprüche oder wahrgenommene Verfallsprozesse beschleunigt werden. Dies kann sowohl durch Manipulationsversuche öffentlicher Diskurse als auch durch terroristische Mittel erfolgen. Die Szene organisiert und formiert sich vor allem in losen digitalen Netzwerken.

Militanter Akzelerationismus ist ein international zu beobachtendes Phänomen und auch in Deutschland finden sich Gruppierungen und Individuen, die sich der Szene zuordnen lassen, wie der neue CeMAS Report „Militanter Akzelerationismus – Ursprung und Aktivität in Deutschland“ zeigt. Die zentralen Erkenntnisse der Untersuchung:

  • In der zweiten Hälfte der 2010er Jahre verlagerte sich die Kommunikation rechtsextremer akzelerationistischer Gruppierungen auf die Online-Plattform Telegram, da ihre Inhalte hier nicht konsequent gelöscht wurden. Für das Netzwerk dieser Gruppen hat sich der Name Terrorgram als Fremd- und Selbstbezeichnung etabliert.
  • Rechtsextremer militanter Akzelerationismus verbreitet sich nicht nur auf Telegram, sondern auch auf rechtsextremen „chan“-Imageboards. Dort postete etwa der Attentäter von Christchurch (Neuseeland) im März 2019 seine eigene Auffassung von Akzelerationismus. Auf Imageboards versammeln sich Rechtsextreme in lockereren Verbünden als in den Gruppen auf Telegram.
  • In Deutschland gab und gibt es seit 2018 mindestens fünf Gruppierungen und mehrere zu Anschlägen bereite Einzelpersonen, welche dem militanten Akzelerationismus zugerechnet werden können.
  • Der rechtsextreme Terroranschlag in Halle mit zwei Toten und zwei Verletzten im Jahr 2019 ist dem rechtsextremen militanten Akzelerationismus zuzuordnen.
  • Ermittlungen zur „Vorbereitung einer schweren staatgefährdenden Gewalttat“ laufen derzeit gegen mindestens drei Beschuldigte. Eine weitere Person wurde bereits zu zwei Jahren Freiheitsentzug verurteilt.
  • Die Täter werden – in Deutschland wie international – immer jünger. Minderjährige sind für einen steigenden Anteil an (verhinderten) Anschlägen verantwortlich. Es fehlt an Forschung über den Radikalisierungsbeginn und -verlauf auf den bei Jugendlichen relevanten Plattformen.
  • 3D-gedruckte Waffen haben sich seit dem Anschlag in Halle 2019 stark weiterentwickelt, sie werden immer häufiger als realistische Alternative zu herkömmlichen Waffen in der Szene besprochen.
  • Anfeindungen gegen LGBTIQ+ sind stärker in den Fokus gerückt. Hier muss verstärkt in ihren Schutz investiert werden.
  • Terrorgram produziert eigene, aufwändig erstellte Publikationen, in denen zu terroristischen Taten aufgerufen wird und Anleitungen dazu geteilt werden. Die Etablierung dieser Publikationen erhöht die Gefahr von terroristischen Anschlägen.

Der digitale Raum wird als Radikalisierungsplattform noch immer nicht ernst genommen

Der neue CeMAS Report macht deutlich: Noch immer wird der digitale Raum als Radikalisierungsplattform von Sicherheitsbehörden und Politik nicht ernst genug genommen. Als Konsequenz ist der Zugang zu rechtsextremen Online-Subkulturen auch für Minderjährige heute leichter denn je.

„Der aktuelle CeMAS Report belegt eindrücklich das Dilemma unserer Zeit: Die Offenheit unserer Kommunikationssysteme und der technologische Fortschritt eilen unseren Fähigkeiten voraus, die damit verbundenen Risiken zu beherrschen“, sagt Silke Mülherr aus der Geschäftsführung der Alfred Landecker Foundation, die CeMAS seit der Gründung fördert. „Wenn rechte Subgruppen in digitalen Räumen Minderjährige für Anschläge rekrutieren, markiert dies einen besorgniserregenden Trend, der noch lange nicht mit der gebotenen Entschlossenheit bekämpft wird. Ohne effektive Plattformregulierung und digitalaffine Staatsanwaltschaften, die mit der notwendigen Sachkenntnis ermitteln, können militante Akzelerationisten ungehindert agieren. Es ist Einrichtungen wie CeMAS zu verdanken, dass diese gefährlichen Entwicklungen identifiziert und auf den Radar der Behörden gesetzt werden.“

Auch Social-Media-Plattformen müssen sich ihrer Verantwortung stellen und in der Lage sein, rechte Raumaneignungsversuche zu erkennen und ihnen zu begegnen. „Rechtsterrorismus hat sich in den letzten Jahren gewandelt. In digitalen Räumen sind neue rechtsterroristische Subkulturen entstanden. CeMAS wird daher künftig weiterhin ein besonderes Augenmerk auf die gegenwärtigen Formen von Rechtsterror legen, um entsprechende Handlungsempfehlungen abzuleiten. Denn wenn Menschen sich im digitalen Raum radikalisieren, ist es nicht nur ein technisches, sondern in erster Linie ein gesellschaftliches Problem“, sagt Pia Lamberty, Geschäftsführerin von CeMAS.

Die Analysen des Reports unterstreichen einmal mehr: Um als Gesellschaft besser verstehen zu können, welche Rolle Social Media für die Radikalisierung und die Verbreitung von Desinformation spielen und wie nicht nur rechtsterroristische Taten, sondern auch die vorgelagerte Radikalisierung verhindert werden können, bedarf es einer tiefgehenden und langfristigen Forschung. Denn die Antworten auf das Problem konzentrieren sich bislang oft auf die Reduzierung des Angebots rechtsterroristischer Inhalte.

Zum gesamten Report (per PDF downloadbar)

Link: https://cemas.io/publikationen/militanter-akzelerationismus/

Für Interviews stehen zur Verfügung

Miro Dittrich, Rechtsextremismusexperte & Senior Researcher bei CeMAS
Jan Rathje, Politikwissenschaftler & Senior Researcher bei CeMAS

Pressekontakt

Corinne Heuer
CeMAS – Center für Monitoring, Analyse und Strategie
E-Mail: presse@cemas.io
Website: www.cemas.io

Über CeMAS

CeMAS, das gemeinnützige Center für Monitoring, Analyse und Strategie bündelt jahrelange interdisziplinäre Expertise zu den Themen Verschwörungsideologien, Desinformation, Antisemitismus und Rechtsextremismus. CeMAS adressiert aktuelle Entwicklungen innerhalb der Themenfelder online durch systematisches Monitoring zentraler digitaler Plattformen und moderner Studiendesigns, um so innovative Analysen und Handlungsempfehlungen abzuleiten. Darüber hinaus berät CeMAS Entscheidungsträger:innen aus Zivilgesellschaft, Medien und Politik. CeMAS wird gefördert von der Alfred Landecker Foundation.

Über die Alfred Landecker Foundation

Die Alfred Landecker Foundation fördert und beschleunigt die Entwicklung einer offenen, demokratischen und diskriminierungsfreien Gesellschaft. Die Stiftung ist ein Inkubator für Demokratie im digitalen Zeitalter. Sie setzt sich ein für eine zeitgemäße Erinnerungskultur und bekämpft Antisemitismus und Rassismus. Die Stiftung schafft Netzwerke, Räume und Wissen, indem sie interdisziplinäre Projekte unterstützt, fördert, vernetzt und professionalisiert. Durch den Aufbau eines Netzwerks global aktiver Partner:innen macht sie Wissen und Erfahrungen breit verfügbar und bringt unterschiedlichste Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis an einen Tisch.

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